jedermann geradezu ansinnen und auch, ohne sonderlich zu fehlen, erwarten können; aber mit unserm Urtheile über das Erhabene in der Natur können wir uns nicht so leicht Eingang bey andern versprechen. Denn es scheint eine bey weitem größere Cultur, nicht blos der ästhetischen Urtheilskraft, sondern auch der Erkenntnis- vermögen, die ihr zum Grunde liegen, erforderlich zu seyn, um über diese Vorzüglichkeit der Naturgegenstände ein Urtheil fällen zu können.
Die Stimmung des Gemüths zum Gefühl des Er- habenen erfordert eine Empfänglichkeit desselben für Jdeen; denn eben in der Unangemessenheit der Natur zu dem letztern, mithin nur unter dieser ihrer Voraussetzung und der Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema für die letztere zu behandeln, besteht das Abschreckende für die Sinnlichkeit, welches doch zugleich anziehend ist; weil es eine Gewalt ist, welche die Ver- nunft auf jene ausübt, nur um sie ihrem eigentlichen Gebiete (dem practischen) angemessen zu erweitern und sie auf das Unendliche hinaussehen zu lassen, welches für jene ein Abgrund ist. Jn der That wird ohne Ent- wickelung sittlicher Jdeen das, was wir, durch Cultur verbreitet, erhaben nennen, dem roheu Menschen blos abschreckend vorkommen. Er wird an den Beweisthü- mern der Gewalt der Natur in ihrer Zerstöhrung und dem großen Maasstabe ihrer Macht, wogegen die seinige
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
jedermann geradezu anſinnen und auch, ohne ſonderlich zu fehlen, erwarten koͤnnen; aber mit unſerm Urtheile uͤber das Erhabene in der Natur koͤnnen wir uns nicht ſo leicht Eingang bey andern verſprechen. Denn es ſcheint eine bey weitem groͤßere Cultur, nicht blos der aͤſthetiſchen Urtheilskraft, ſondern auch der Erkenntnis- vermoͤgen, die ihr zum Grunde liegen, erforderlich zu ſeyn, um uͤber dieſe Vorzuͤglichkeit der Naturgegenſtaͤnde ein Urtheil faͤllen zu koͤnnen.
Die Stimmung des Gemuͤths zum Gefuͤhl des Er- habenen erfordert eine Empfaͤnglichkeit deſſelben fuͤr Jdeen; denn eben in der Unangemeſſenheit der Natur zu dem letztern, mithin nur unter dieſer ihrer Vorausſetzung und der Anſpannung der Einbildungskraft, die Natur als ein Schema fuͤr die letztere zu behandeln, beſteht das Abſchreckende fuͤr die Sinnlichkeit, welches doch zugleich anziehend iſt; weil es eine Gewalt iſt, welche die Ver- nunft auf jene ausuͤbt, nur um ſie ihrem eigentlichen Gebiete (dem practiſchen) angemeſſen zu erweitern und ſie auf das Unendliche hinausſehen zu laſſen, welches fuͤr jene ein Abgrund iſt. Jn der That wird ohne Ent- wickelung ſittlicher Jdeen das, was wir, durch Cultur verbreitet, erhaben nennen, dem roheu Menſchen blos abſchreckend vorkommen. Er wird an den Beweisthuͤ- mern der Gewalt der Natur in ihrer Zerſtoͤhrung und dem großen Maasſtabe ihrer Macht, wogegen die ſeinige
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
jedermann geradezu anſinnen und auch, ohne ſonderlich
zu fehlen, erwarten koͤnnen; aber mit unſerm Urtheile
uͤber das Erhabene in der Natur koͤnnen wir uns nicht
ſo leicht Eingang bey andern verſprechen. Denn es
ſcheint eine bey weitem groͤßere Cultur, nicht blos der
aͤſthetiſchen Urtheilskraft, ſondern auch der Erkenntnis-
vermoͤgen, die ihr zum Grunde liegen, erforderlich zu
ſeyn, um uͤber dieſe Vorzuͤglichkeit der Naturgegenſtaͤnde
ein Urtheil faͤllen zu koͤnnen.
Die Stimmung des Gemuͤths zum Gefuͤhl des Er-
habenen erfordert eine Empfaͤnglichkeit deſſelben fuͤr
Jdeen; denn eben in der Unangemeſſenheit der Natur zu
dem letztern, mithin nur unter dieſer ihrer Vorausſetzung
und der Anſpannung der Einbildungskraft, die Natur
als ein Schema fuͤr die letztere zu behandeln, beſteht das
Abſchreckende fuͤr die Sinnlichkeit, welches doch zugleich
anziehend iſt; weil es eine Gewalt iſt, welche die Ver-
nunft auf jene ausuͤbt, nur um ſie ihrem eigentlichen
Gebiete (dem practiſchen) angemeſſen zu erweitern und
ſie auf das Unendliche hinausſehen zu laſſen, welches
fuͤr jene ein Abgrund iſt. Jn der That wird ohne Ent-
wickelung ſittlicher Jdeen das, was wir, durch Cultur
verbreitet, erhaben nennen, dem roheu Menſchen blos
abſchreckend vorkommen. Er wird an den Beweisthuͤ-
mern der Gewalt der Natur in ihrer Zerſtoͤhrung und
dem großen Maasſtabe ihrer Macht, wogegen die ſeinige
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/173>, abgerufen am 11.12.2024.
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