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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
in Nichts verschwindet, lauter Mühseeligkeit, Gefahr
und Noth sehen, die den Menschen umgeben würden,
der dahin gebannt wäre. So nannte der gute, übri-
gens verständige savoyische Bauer (wie Hr. v. Saussüre
erzählt) alle Liebhaber der Eisgebürge ohne Bedenken
Narren. Wer weiß auch ob er so ganz Unrecht gehabt
hätte, wenn jener Beobachter die Gefahren, denen er
sich hier aussetzte, blos, wie die meisten Reisende pfle-
gen, aus Liebhaberey, oder um dereinst pathetische Be-
schreibungen davon geben zu können, übernommen hätte;
so aber war seine Absicht, Belehrung der Menschen und
die seelenerhebende Empfindung hatte und gab der vor-
trefliche Mann den Lesern seiner Reisen in ihren Kauf
oben ein.

Darum aber, weil das Urtheil über das Erhabene
der Natur Cultur bedarf (mehr als das über das Schö-
ne), ist es doch dadurch nicht eben von der Cultur zu-
erst erzeugt und etwa blos conventionsmäßig in der Ge-
sellschaft eingeführt, sondern hat ihre Grundlage in der
menschlichen Natur und zwar demjenigen, was man mit
dem gesunden Verstande zugleich jedermann ansinnen
und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage zum
Gefühl für (practische) Jdeen, d. i. den moralischen.

Hierauf gründet sich nun die Nothwendigkeit der
Beystimmung des Urtheils anderer vom Erhabenen zu
dem unsrigen, welche wir in diesem zugleich mit ein-
schließen. Denn, so wie wir dem, der in der Beurthei-

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
in Nichts verſchwindet, lauter Muͤhſeeligkeit, Gefahr
und Noth ſehen, die den Menſchen umgeben wuͤrden,
der dahin gebannt waͤre. So nannte der gute, uͤbri-
gens verſtaͤndige ſavoyiſche Bauer (wie Hr. v. Sauſſuͤre
erzaͤhlt) alle Liebhaber der Eisgebuͤrge ohne Bedenken
Narren. Wer weiß auch ob er ſo ganz Unrecht gehabt
haͤtte, wenn jener Beobachter die Gefahren, denen er
ſich hier ausſetzte, blos, wie die meiſten Reiſende pfle-
gen, aus Liebhaberey, oder um dereinſt pathetiſche Be-
ſchreibungen davon geben zu koͤnnen, uͤbernommen haͤtte;
ſo aber war ſeine Abſicht, Belehrung der Menſchen und
die ſeelenerhebende Empfindung hatte und gab der vor-
trefliche Mann den Leſern ſeiner Reiſen in ihren Kauf
oben ein.

Darum aber, weil das Urtheil uͤber das Erhabene
der Natur Cultur bedarf (mehr als das uͤber das Schoͤ-
ne), iſt es doch dadurch nicht eben von der Cultur zu-
erſt erzeugt und etwa blos conventionsmaͤßig in der Ge-
ſellſchaft eingefuͤhrt, ſondern hat ihre Grundlage in der
menſchlichen Natur und zwar demjenigen, was man mit
dem geſunden Verſtande zugleich jedermann anſinnen
und von ihm fordern kann, naͤmlich in der Anlage zum
Gefuͤhl fuͤr (practiſche) Jdeen, d. i. den moraliſchen.

Hierauf gruͤndet ſich nun die Nothwendigkeit der
Beyſtimmung des Urtheils anderer vom Erhabenen zu
dem unſrigen, welche wir in dieſem zugleich mit ein-
ſchließen. Denn, ſo wie wir dem, der in der Beurthei-

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[110/0174] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. in Nichts verſchwindet, lauter Muͤhſeeligkeit, Gefahr und Noth ſehen, die den Menſchen umgeben wuͤrden, der dahin gebannt waͤre. So nannte der gute, uͤbri- gens verſtaͤndige ſavoyiſche Bauer (wie Hr. v. Sauſſuͤre erzaͤhlt) alle Liebhaber der Eisgebuͤrge ohne Bedenken Narren. Wer weiß auch ob er ſo ganz Unrecht gehabt haͤtte, wenn jener Beobachter die Gefahren, denen er ſich hier ausſetzte, blos, wie die meiſten Reiſende pfle- gen, aus Liebhaberey, oder um dereinſt pathetiſche Be- ſchreibungen davon geben zu koͤnnen, uͤbernommen haͤtte; ſo aber war ſeine Abſicht, Belehrung der Menſchen und die ſeelenerhebende Empfindung hatte und gab der vor- trefliche Mann den Leſern ſeiner Reiſen in ihren Kauf oben ein. Darum aber, weil das Urtheil uͤber das Erhabene der Natur Cultur bedarf (mehr als das uͤber das Schoͤ- ne), iſt es doch dadurch nicht eben von der Cultur zu- erſt erzeugt und etwa blos conventionsmaͤßig in der Ge- ſellſchaft eingefuͤhrt, ſondern hat ihre Grundlage in der menſchlichen Natur und zwar demjenigen, was man mit dem geſunden Verſtande zugleich jedermann anſinnen und von ihm fordern kann, naͤmlich in der Anlage zum Gefuͤhl fuͤr (practiſche) Jdeen, d. i. den moraliſchen. Hierauf gruͤndet ſich nun die Nothwendigkeit der Beyſtimmung des Urtheils anderer vom Erhabenen zu dem unſrigen, welche wir in dieſem zugleich mit ein- ſchließen. Denn, ſo wie wir dem, der in der Beurthei-

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/174>, abgerufen am 11.12.2024.