Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft. schönen oder erhabenen Gegenständen der Natur hergenom-men werden dürfen, die den Begrif von einem Zwecke vor- aussetzen; denn alsdenn würden es entweder teleologische, oder sich auf bloßen Empfindungen eines Gegenstandes (Ver- gnügen oder Schmerz) gründende, mithin im ersteren Falle nicht ästhetische, im zweyten nicht bloße formale Zweckmäßig- keit seyn. Wenn man also den Aublick des bestirnten Him- mels erhaben nennt, so muß man der Beurtheilung dessel- ben nicht Begriffe von Welten, von vernünftigen Wesen be- wohnt und nun die hellen Puncte, womit wir den Raum über uns erfüllt sehen, als ihre Sonnen in sehr zweckmäßig für sie gestellten Kreisen bewegt, zum Grunde legen, son- dern blos, wie man ihn sieht, als ein weites Gewölbe, was alles befaßt, und blos unter dieser Vorstellung müssen wir die Erhabenheit setzen, die ein reines ästhetisches Urtheil die- sem Gegenstande beylegt. Eben so den Anblick des Oceans nicht so, wie wir, mit allerley Kenntnissen (die aber nicht in der unmittelbaren Anschauung enthalten sind) bereichert, ihn denken, etwa als ein weites Reich von Wassergeschöpfen, den großen Wasserschatz für die Ausdünstungen, welche die Luft mit Wolken zum Behuf der Länder beschwängern, oder auch als ein Element, das zwar Welttheile von einander trennt, gleichwohl aber die größte Gemeinschaft unter ihnen möglich macht, vorstellen, denn das giebt lauter teleologische Urtheile; sondern man muß den Orean blos, wie die Dich- ter es thun, nach dem, was der Augenschein zeigt, etwa, wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Wasser- spiegel, der blos vom Himmel begrenzt ist, aber ist er unru- hig, wie einen alles zu verschlingen drohenden Abgrund den- noch erhaben finden können. Eben das ist von dem Erhabe- nen und Schönen in der Menschengestalt zu sagen, wo wir nicht auf Begriffe der Zwecke, wozu alle seine Gliedmaßen H 3
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. ſchoͤnen oder erhabenen Gegenſtaͤnden der Natur hergenom-men werden duͤrfen, die den Begrif von einem Zwecke vor- ausſetzen; denn alsdenn wuͤrden es entweder teleologiſche, oder ſich auf bloßen Empfindungen eines Gegenſtandes (Ver- gnuͤgen oder Schmerz) gruͤndende, mithin im erſteren Falle nicht aͤſthetiſche, im zweyten nicht bloße formale Zweckmaͤßig- keit ſeyn. Wenn man alſo den Aublick des beſtirnten Him- mels erhaben nennt, ſo muß man der Beurtheilung deſſel- ben nicht Begriffe von Welten, von vernuͤnftigen Weſen be- wohnt und nun die hellen Puncte, womit wir den Raum uͤber uns erfuͤllt ſehen, als ihre Sonnen in ſehr zweckmaͤßig fuͤr ſie geſtellten Kreiſen bewegt, zum Grunde legen, ſon- dern blos, wie man ihn ſieht, als ein weites Gewoͤlbe, was alles befaßt, und blos unter dieſer Vorſtellung muͤſſen wir die Erhabenheit ſetzen, die ein reines aͤſthetiſches Urtheil die- ſem Gegenſtande beylegt. Eben ſo den Anblick des Oceans nicht ſo, wie wir, mit allerley Kenntniſſen (die aber nicht in der unmittelbaren Anſchauung enthalten ſind) bereichert, ihn denken, etwa als ein weites Reich von Waſſergeſchoͤpfen, den großen Waſſerſchatz fuͤr die Ausduͤnſtungen, welche die Luft mit Wolken zum Behuf der Laͤnder beſchwaͤngern, oder auch als ein Element, das zwar Welttheile von einander trennt, gleichwohl aber die groͤßte Gemeinſchaft unter ihnen moͤglich macht, vorſtellen, denn das giebt lauter teleologiſche Urtheile; ſondern man muß den Orean blos, wie die Dich- ter es thun, nach dem, was der Augenſchein zeigt, etwa, wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Waſſer- ſpiegel, der blos vom Himmel begrenzt iſt, aber iſt er unru- hig, wie einen alles zu verſchlingen drohenden Abgrund den- noch erhaben finden koͤnnen. Eben das iſt von dem Erhabe- nen und Schoͤnen in der Menſchengeſtalt zu ſagen, wo wir nicht auf Begriffe der Zwecke, wozu alle ſeine Gliedmaßen H 3
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ſchoͤnen oder erhabenen Gegenſtaͤnden der Natur hergenom-
men werden duͤrfen, die den Begrif von einem Zwecke vor-
ausſetzen; denn alsdenn wuͤrden es entweder teleologiſche,
oder ſich auf bloßen Empfindungen eines Gegenſtandes (Ver-
gnuͤgen oder Schmerz) gruͤndende, mithin im erſteren Falle
nicht aͤſthetiſche, im zweyten nicht bloße formale Zweckmaͤßig-
keit ſeyn. Wenn man alſo den Aublick des beſtirnten Him-
mels erhaben nennt, ſo muß man der Beurtheilung deſſel-
ben nicht Begriffe von Welten, von vernuͤnftigen Weſen be-
wohnt und nun die hellen Puncte, womit wir den Raum
uͤber uns erfuͤllt ſehen, als ihre Sonnen in ſehr zweckmaͤßig
fuͤr ſie geſtellten Kreiſen bewegt, zum Grunde legen, ſon-
dern blos, wie man ihn ſieht, als ein weites Gewoͤlbe, was
alles befaßt, und blos unter dieſer Vorſtellung muͤſſen wir
die Erhabenheit ſetzen, die ein reines aͤſthetiſches Urtheil die-
ſem Gegenſtande beylegt. Eben ſo den Anblick des Oceans
nicht ſo, wie wir, mit allerley Kenntniſſen (die aber nicht
in der unmittelbaren Anſchauung enthalten ſind) bereichert,
ihn denken, etwa als ein weites Reich von Waſſergeſchoͤpfen,
den großen Waſſerſchatz fuͤr die Ausduͤnſtungen, welche die
Luft mit Wolken zum Behuf der Laͤnder beſchwaͤngern, oder
auch als ein Element, das zwar Welttheile von einander
trennt, gleichwohl aber die groͤßte Gemeinſchaft unter ihnen
moͤglich macht, vorſtellen, denn das giebt lauter teleologiſche
Urtheile; ſondern man muß den Orean blos, wie die Dich-
ter es thun, nach dem, was der Augenſchein zeigt, etwa,
wenn er in Ruhe betrachtet wird, als einen klaren Waſſer-
ſpiegel, der blos vom Himmel begrenzt iſt, aber iſt er unru-
hig, wie einen alles zu verſchlingen drohenden Abgrund den-
noch erhaben finden koͤnnen. Eben das iſt von dem Erhabe-
nen und Schoͤnen in der Menſchengeſtalt zu ſagen, wo wir
nicht auf Begriffe der Zwecke, wozu alle ſeine Gliedmaßen
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