Noch ist anzumerken, daß, obgleich das Wohlgefallen am Schönen eben sowohl, als das am Erhabenen, nicht allein durch allgemeine Mittheilbarkeit unter den anderen ästhetischen Beurtheilungen kenntlich unterschieden sind und durch diese Eigenschaft in Beziehung auf Gesellschaft (in der es sich mittheilen läßt) ein Jnteresse bekommt, gleichwohl doch auch die Absonderung von aller Gesellschaft als et- was Erhabenes angesehen werde, wenn sie auf Jdeen be- ruht, welche über alles sinnliche Jnteresse hinweg sehen. Sich selbst genug zu seyn, mithin Gesellschaft nicht bedürfen, ohne doch ungesellig zu seyn d. i. sie zu fliehen, ist etwas dem Er- habenen sich näherndes, so wie jede Ueberhebung von Be- dürfnissen. Dagegen ist Menschen zu fliehen, aus Misan- thropie, weil man sie anfeindet, oder aus Anthropopho- bie (Menschenscheu) weil man sie als seine Feinde fürchtet, theils häslich, theils verächtlich. Gleichwohl giebt es eine (sehr uneigentlich sogenannte) Misanthropie, wozu die An- lage sich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menschen Gemüth einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohl- wollen betrift, philanthropisch genug ist, aber vom Wohlge- fallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht ist, wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantastische Wunsch auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bey jungen Personen) die erträumte Glückseeligkeit auf einem der übrigen Welt unbekannten Eylande, mit einer klei- nen Familie, seine Lebenszeit zubringen zu können, welche die Romanschreiber, oder Dichter der Robinsonaden so gut zu nutzen wissen, Zeugnis giebt. Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit, das Kindische in den von uns selbst für wich- tig und gros gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst und unter einander alle erdenkliche Uebel an- thun, stehen mit der Jdee dessen, was sie seyn könnten,
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Noch iſt anzumerken, daß, obgleich das Wohlgefallen am Schoͤnen eben ſowohl, als das am Erhabenen, nicht allein durch allgemeine Mittheilbarkeit unter den anderen aͤſthetiſchen Beurtheilungen kenntlich unterſchieden ſind und durch dieſe Eigenſchaft in Beziehung auf Geſellſchaft (in der es ſich mittheilen laͤßt) ein Jntereſſe bekommt, gleichwohl doch auch die Abſonderung von aller Geſellſchaft als et- was Erhabenes angeſehen werde, wenn ſie auf Jdeen be- ruht, welche uͤber alles ſinnliche Jntereſſe hinweg ſehen. Sich ſelbſt genug zu ſeyn, mithin Geſellſchaft nicht beduͤrfen, ohne doch ungeſellig zu ſeyn d. i. ſie zu fliehen, iſt etwas dem Er- habenen ſich naͤherndes, ſo wie jede Ueberhebung von Be- duͤrfniſſen. Dagegen iſt Menſchen zu fliehen, aus Miſan- thropie, weil man ſie anfeindet, oder aus Anthropopho- bie (Menſchenſcheu) weil man ſie als ſeine Feinde fuͤrchtet, theils haͤslich, theils veraͤchtlich. Gleichwohl giebt es eine (ſehr uneigentlich ſogenannte) Miſanthropie, wozu die An- lage ſich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menſchen Gemuͤth einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohl- wollen betrift, philanthropiſch genug iſt, aber vom Wohlge- fallen an Menſchen durch eine lange traurige Erfahrung weit abgebracht iſt, wovon der Hang zur Eingezogenheit, der phantaſtiſche Wunſch auf einem entlegenen Landſitze, oder auch (bey jungen Perſonen) die ertraͤumte Gluͤckſeeligkeit auf einem der uͤbrigen Welt unbekannten Eylande, mit einer klei- nen Familie, ſeine Lebenszeit zubringen zu koͤnnen, welche die Romanſchreiber, oder Dichter der Robinſonaden ſo gut zu nutzen wiſſen, Zeugnis giebt. Falſchheit, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit, das Kindiſche in den von uns ſelbſt fuͤr wich- tig und gros gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung ſich Menſchen ſelbſt und unter einander alle erdenkliche Uebel an- thun, ſtehen mit der Jdee deſſen, was ſie ſeyn koͤnnten,
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Noch iſt anzumerken, daß, obgleich das Wohlgefallen
am Schoͤnen eben ſowohl, als das am Erhabenen, nicht
allein durch allgemeine Mittheilbarkeit unter den anderen
aͤſthetiſchen Beurtheilungen kenntlich unterſchieden ſind und
durch dieſe Eigenſchaft in Beziehung auf Geſellſchaft (in der
es ſich mittheilen laͤßt) ein Jntereſſe bekommt, gleichwohl
doch auch die Abſonderung von aller Geſellſchaft als et-
was Erhabenes angeſehen werde, wenn ſie auf Jdeen be-
ruht, welche uͤber alles ſinnliche Jntereſſe hinweg ſehen. Sich
ſelbſt genug zu ſeyn, mithin Geſellſchaft nicht beduͤrfen, ohne
doch ungeſellig zu ſeyn d. i. ſie zu fliehen, iſt etwas dem Er-
habenen ſich naͤherndes, ſo wie jede Ueberhebung von Be-
duͤrfniſſen. Dagegen iſt Menſchen zu fliehen, aus Miſan-
thropie, weil man ſie anfeindet, oder aus Anthropopho-
bie (Menſchenſcheu) weil man ſie als ſeine Feinde fuͤrchtet,
theils haͤslich, theils veraͤchtlich. Gleichwohl giebt es eine
(ſehr uneigentlich ſogenannte) Miſanthropie, wozu die An-
lage ſich mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menſchen
Gemuͤth einzufinden pflegt, welche zwar, was das Wohl-
wollen betrift, philanthropiſch genug iſt, aber vom Wohlge-
fallen an Menſchen durch eine lange traurige Erfahrung weit
abgebracht iſt, wovon der Hang zur Eingezogenheit, der
phantaſtiſche Wunſch auf einem entlegenen Landſitze, oder
auch (bey jungen Perſonen) die ertraͤumte Gluͤckſeeligkeit auf
einem der uͤbrigen Welt unbekannten Eylande, mit einer klei-
nen Familie, ſeine Lebenszeit zubringen zu koͤnnen, welche
die Romanſchreiber, oder Dichter der Robinſonaden ſo gut zu
nutzen wiſſen, Zeugnis giebt. Falſchheit, Undankbarkeit,
Ungerechtigkeit, das Kindiſche in den von uns ſelbſt fuͤr wich-
tig und gros gehaltenen Zwecken, in deren Verfolgung ſich
Menſchen ſelbſt und unter einander alle erdenkliche Uebel an-
thun, ſtehen mit der Jdee deſſen, was ſie ſeyn koͤnnten,
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/189>, abgerufen am 11.12.2024.
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