Hülfe zu suchen. Daher haben auch Regierungen gerne er- laubt die Religion mit dem letztern Zubehör reichlich versor- gen zu lassen und so dem Unterthan die Mühe, zugleich aber auch das Vermögen, zu benehmen gesucht, seine Seelenkräfte über die Schranken auszudehnen, die man ihm willkührlich setzen und wodurch man ihn, als blos passiv leichter behan- deln kann.
Diese reine, seelenerhebende, blos negative Darstellung der Sittlichkeit, bringt dagegen keine Gefahr der Schwär- merey, welche ein Wahn ist über alle Grenze der Sitt- lichkeit hinaus etwas sehen d. i. nach Grundsätzen träu- men (mit Vernunft rasen) zu wollen; eben darum, weil die Darstellung bey jener blos negativ ist. Denn die Uner- forschlichkeit der Jdee der Freyheit schneidet aller positi- ven Darstellung gänzlich den Weg ab: das moralische Gesetzt aber ist an sich selbst in uns hinreichend und ursprünglich be- stimmend, so daß es nicht einmal erlaubt uns nach einem Bestimmungsgrunde außer demselben umzusehen. Wenn der Enthusiasm mit dem Wahnsinn, so ist die Schwärmerey mit dem Wahnwitz zu vergleichen, wovon der letztere sich unter allen am wenigsten mit dem Erhabenen verträgt, weil er grüblerisch lächerlich ist. Jm Enthusiasm als Affect ist die Einbildungskraft zügellos, in der Schwärmerey, als einge- wurzelter brütender Leidenschaft, regellos. Der erstere ist vorübergehender Zufall, der den gesundesten Verstand biswei- len wohl betrift, der zweyte eine Krankheit, die ihn zerrüttet.
Einfalt (kunstlose Zweckmäßigkeit) ist gleichsam der Styl der Natur im Erhabenen und so auch der Sittlichkeit, welche eine zweyte (übersinnliche) Natur ist, davon wir nur die Gesetze kennen, ohne das übersinnliche Vermögen in uns, selbst was den Grund dieser Gesetzgebung enthält, durch anschauen erreichen zu können.
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Huͤlfe zu ſuchen. Daher haben auch Regierungen gerne er- laubt die Religion mit dem letztern Zubehoͤr reichlich verſor- gen zu laſſen und ſo dem Unterthan die Muͤhe, zugleich aber auch das Vermoͤgen, zu benehmen geſucht, ſeine Seelenkraͤfte uͤber die Schranken auszudehnen, die man ihm willkuͤhrlich ſetzen und wodurch man ihn, als blos paſſiv leichter behan- deln kann.
Dieſe reine, ſeelenerhebende, blos negative Darſtellung der Sittlichkeit, bringt dagegen keine Gefahr der Schwaͤr- merey, welche ein Wahn iſt uͤber alle Grenze der Sitt- lichkeit hinaus etwas ſehen d. i. nach Grundſaͤtzen traͤu- men (mit Vernunft raſen) zu wollen; eben darum, weil die Darſtellung bey jener blos negativ iſt. Denn die Uner- forſchlichkeit der Jdee der Freyheit ſchneidet aller poſiti- ven Darſtellung gaͤnzlich den Weg ab: das moraliſche Geſetzt aber iſt an ſich ſelbſt in uns hinreichend und urſpruͤnglich be- ſtimmend, ſo daß es nicht einmal erlaubt uns nach einem Beſtimmungsgrunde außer demſelben umzuſehen. Wenn der Enthuſiasm mit dem Wahnſinn, ſo iſt die Schwaͤrmerey mit dem Wahnwitz zu vergleichen, wovon der letztere ſich unter allen am wenigſten mit dem Erhabenen vertraͤgt, weil er gruͤbleriſch laͤcherlich iſt. Jm Enthuſiasm als Affect iſt die Einbildungskraft zuͤgellos, in der Schwaͤrmerey, als einge- wurzelter bruͤtender Leidenſchaft, regellos. Der erſtere iſt voruͤbergehender Zufall, der den geſundeſten Verſtand biswei- len wohl betrift, der zweyte eine Krankheit, die ihn zerruͤttet.
Einfalt (kunſtloſe Zweckmaͤßigkeit) iſt gleichſam der Styl der Natur im Erhabenen und ſo auch der Sittlichkeit, welche eine zweyte (uͤberſinnliche) Natur iſt, davon wir nur die Geſetze kennen, ohne das uͤberſinnliche Vermoͤgen in uns, ſelbſt was den Grund dieſer Geſetzgebung enthaͤlt, durch anſchauen erreichen zu koͤnnen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0188"n="124"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/>
Huͤlfe zu ſuchen. Daher haben auch Regierungen gerne er-<lb/>
laubt die Religion mit dem letztern Zubehoͤr reichlich verſor-<lb/>
gen zu laſſen und ſo dem Unterthan die Muͤhe, zugleich aber<lb/>
auch das Vermoͤgen, zu benehmen geſucht, ſeine Seelenkraͤfte<lb/>
uͤber die Schranken auszudehnen, die man ihm willkuͤhrlich<lb/>ſetzen und wodurch man ihn, als blos paſſiv leichter behan-<lb/>
deln kann.</p><lb/><p>Dieſe reine, ſeelenerhebende, blos negative Darſtellung<lb/>
der Sittlichkeit, bringt dagegen keine Gefahr der <hirendition="#fr">Schwaͤr-<lb/>
merey,</hi> welche ein <hirendition="#fr">Wahn</hi> iſt uͤber <hirendition="#fr">alle Grenze der Sitt-<lb/>
lichkeit hinaus etwas <hirendition="#g">ſehen</hi></hi> d. i. nach Grundſaͤtzen traͤu-<lb/>
men (mit Vernunft raſen) <hirendition="#fr">zu wollen;</hi> eben darum, weil<lb/>
die Darſtellung bey jener blos negativ iſt. Denn die <hirendition="#fr">Uner-<lb/>
forſchlichkeit der Jdee der Freyheit</hi>ſchneidet aller poſiti-<lb/>
ven Darſtellung gaͤnzlich den Weg ab: das moraliſche Geſetzt<lb/>
aber iſt an ſich ſelbſt in uns hinreichend und urſpruͤnglich be-<lb/>ſtimmend, ſo daß es nicht einmal erlaubt uns nach einem<lb/>
Beſtimmungsgrunde außer demſelben umzuſehen. Wenn der<lb/>
Enthuſiasm mit dem <hirendition="#fr">Wahnſinn,</hi>ſo iſt die Schwaͤrmerey<lb/>
mit dem <hirendition="#fr">Wahnwitz</hi> zu vergleichen, wovon der letztere ſich<lb/>
unter allen am wenigſten mit dem Erhabenen vertraͤgt, weil<lb/>
er gruͤbleriſch laͤcherlich iſt. Jm Enthuſiasm als Affect iſt die<lb/>
Einbildungskraft zuͤgellos, in der Schwaͤrmerey, als einge-<lb/>
wurzelter bruͤtender Leidenſchaft, regellos. Der erſtere iſt<lb/>
voruͤbergehender Zufall, der den geſundeſten Verſtand biswei-<lb/>
len wohl betrift, der zweyte eine Krankheit, die ihn zerruͤttet.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Einfalt</hi> (kunſtloſe Zweckmaͤßigkeit) iſt gleichſam der<lb/>
Styl der Natur im Erhabenen und ſo auch der Sittlichkeit,<lb/>
welche eine zweyte (uͤberſinnliche) Natur iſt, davon wir<lb/>
nur die Geſetze kennen, ohne das uͤberſinnliche Vermoͤgen in<lb/>
uns, ſelbſt was den Grund dieſer Geſetzgebung enthaͤlt, durch<lb/>
anſchauen erreichen zu koͤnnen.</p><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[124/0188]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Huͤlfe zu ſuchen. Daher haben auch Regierungen gerne er-
laubt die Religion mit dem letztern Zubehoͤr reichlich verſor-
gen zu laſſen und ſo dem Unterthan die Muͤhe, zugleich aber
auch das Vermoͤgen, zu benehmen geſucht, ſeine Seelenkraͤfte
uͤber die Schranken auszudehnen, die man ihm willkuͤhrlich
ſetzen und wodurch man ihn, als blos paſſiv leichter behan-
deln kann.
Dieſe reine, ſeelenerhebende, blos negative Darſtellung
der Sittlichkeit, bringt dagegen keine Gefahr der Schwaͤr-
merey, welche ein Wahn iſt uͤber alle Grenze der Sitt-
lichkeit hinaus etwas ſehen d. i. nach Grundſaͤtzen traͤu-
men (mit Vernunft raſen) zu wollen; eben darum, weil
die Darſtellung bey jener blos negativ iſt. Denn die Uner-
forſchlichkeit der Jdee der Freyheit ſchneidet aller poſiti-
ven Darſtellung gaͤnzlich den Weg ab: das moraliſche Geſetzt
aber iſt an ſich ſelbſt in uns hinreichend und urſpruͤnglich be-
ſtimmend, ſo daß es nicht einmal erlaubt uns nach einem
Beſtimmungsgrunde außer demſelben umzuſehen. Wenn der
Enthuſiasm mit dem Wahnſinn, ſo iſt die Schwaͤrmerey
mit dem Wahnwitz zu vergleichen, wovon der letztere ſich
unter allen am wenigſten mit dem Erhabenen vertraͤgt, weil
er gruͤbleriſch laͤcherlich iſt. Jm Enthuſiasm als Affect iſt die
Einbildungskraft zuͤgellos, in der Schwaͤrmerey, als einge-
wurzelter bruͤtender Leidenſchaft, regellos. Der erſtere iſt
voruͤbergehender Zufall, der den geſundeſten Verſtand biswei-
len wohl betrift, der zweyte eine Krankheit, die ihn zerruͤttet.
Einfalt (kunſtloſe Zweckmaͤßigkeit) iſt gleichſam der
Styl der Natur im Erhabenen und ſo auch der Sittlichkeit,
welche eine zweyte (uͤberſinnliche) Natur iſt, davon wir
nur die Geſetze kennen, ohne das uͤberſinnliche Vermoͤgen in
uns, ſelbſt was den Grund dieſer Geſetzgebung enthaͤlt, durch
anſchauen erreichen zu koͤnnen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/188>, abgerufen am 11.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.