daß andere allenfalls für ihn sehen und beobachten, und was viele auf einerley Art gesehen haben einen hinrei- chenden Beweisgrund für ihn, der es anders gesehen zu haben glaubt, zum theoretischen, niemals aber das, was andern gefallen hat, zum Grunde eines ästhetischen Ur- theils dienen könne. Das uns ungünstige Urtheil ande- rer kann uns zwar mit Recht in Ansehung des unsrigen bedenklich machen, niemals aber von der Unrichtigkeit desselben überzeugen. Also giebt es keinen empirischen Beweisgrund, das Geschmacksurtheil jemanden ab- zunöthigen.
Zweytens kann noch weniger ein Beweis a priori nach bestimmten Regeln das Urtheil über Schönheit be- stimmen. Wenn mir jemand sein Gedicht vorliest, oder mich in ein Schauspiel führt, welches am Ende meinem Geschmacke nicht behagen will, so mag er den Batteux oder Lessing, oder noch ältere und berühmtere Critiker des Geschmacks und alle von ihnen aufgestellte Regeln zum Beweise anführen, daß sein Gedicht schön sey, wenigstens mögen gewisse Stellen, die mir eben mis- fallen, mit Regeln der Schönheit (so wie sie dort gegeben und allgemein anerkannt sind) gar wohl zusammenstim- men, so stopfe ich mir die Ohren zu, mag nach keinen Grün- den und Vernünfteln hören und werde eher annehmen, daß jene Regeln der Critiker falsch seyn, oder daß wenig- stens hier nicht der Fall ihrer Anwendung sey, als daß ich mein Urtheil durch Beweisgründe a priori sollte be-
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
daß andere allenfalls fuͤr ihn ſehen und beobachten, und was viele auf einerley Art geſehen haben einen hinrei- chenden Beweisgrund fuͤr ihn, der es anders geſehen zu haben glaubt, zum theoretiſchen, niemals aber das, was andern gefallen hat, zum Grunde eines aͤſthetiſchen Ur- theils dienen koͤnne. Das uns unguͤnſtige Urtheil ande- rer kann uns zwar mit Recht in Anſehung des unſrigen bedenklich machen, niemals aber von der Unrichtigkeit deſſelben uͤberzeugen. Alſo giebt es keinen empiriſchen Beweisgrund, das Geſchmacksurtheil jemanden ab- zunoͤthigen.
Zweytens kann noch weniger ein Beweis a priori nach beſtimmten Regeln das Urtheil uͤber Schoͤnheit be- ſtimmen. Wenn mir jemand ſein Gedicht vorlieſt, oder mich in ein Schauſpiel fuͤhrt, welches am Ende meinem Geſchmacke nicht behagen will, ſo mag er den Batteux oder Leſſing, oder noch aͤltere und beruͤhmtere Critiker des Geſchmacks und alle von ihnen aufgeſtellte Regeln zum Beweiſe anfuͤhren, daß ſein Gedicht ſchoͤn ſey, wenigſtens moͤgen gewiſſe Stellen, die mir eben mis- fallen, mit Regeln der Schoͤnheit (ſo wie ſie dort gegeben und allgemein anerkannt ſind) gar wohl zuſammenſtim- men, ſo ſtopfe ich mir die Ohren zu, mag nach keinen Gruͤn- den und Vernuͤnfteln hoͤren und werde eher annehmen, daß jene Regeln der Critiker falſch ſeyn, oder daß wenig- ſtens hier nicht der Fall ihrer Anwendung ſey, als daß ich mein Urtheil durch Beweisgruͤnde a priori ſollte be-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
daß andere allenfalls fuͤr ihn ſehen und beobachten, und
was viele auf einerley Art geſehen haben einen hinrei-
chenden Beweisgrund fuͤr ihn, der es anders geſehen zu
haben glaubt, zum theoretiſchen, niemals aber das, was
andern gefallen hat, zum Grunde eines aͤſthetiſchen Ur-
theils dienen koͤnne. Das uns unguͤnſtige Urtheil ande-
rer kann uns zwar mit Recht in Anſehung des unſrigen
bedenklich machen, niemals aber von der Unrichtigkeit
deſſelben uͤberzeugen. Alſo giebt es keinen empiriſchen
Beweisgrund, das Geſchmacksurtheil jemanden ab-
zunoͤthigen.
Zweytens kann noch weniger ein Beweis a priori
nach beſtimmten Regeln das Urtheil uͤber Schoͤnheit be-
ſtimmen. Wenn mir jemand ſein Gedicht vorlieſt, oder
mich in ein Schauſpiel fuͤhrt, welches am Ende meinem
Geſchmacke nicht behagen will, ſo mag er den Batteux
oder Leſſing, oder noch aͤltere und beruͤhmtere Critiker
des Geſchmacks und alle von ihnen aufgeſtellte Regeln
zum Beweiſe anfuͤhren, daß ſein Gedicht ſchoͤn ſey,
wenigſtens moͤgen gewiſſe Stellen, die mir eben mis-
fallen, mit Regeln der Schoͤnheit (ſo wie ſie dort gegeben
und allgemein anerkannt ſind) gar wohl zuſammenſtim-
men, ſo ſtopfe ich mir die Ohren zu, mag nach keinen Gruͤn-
den und Vernuͤnfteln hoͤren und werde eher annehmen,
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/203>, abgerufen am 04.12.2024.
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