der Form nach, sondern auch das Daseyn desselben ge- fällt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil hätte, oder er auch irgend einen Zweck damit verbände.
Es ist aber hiebey merkwürdig, daß, wenn man diesem Liebhaber des Schönen in geheim hintergangen hätte und künstliche Blumen (die man den natürlichen ganz ähnlich verfertigen kann) in die Erde gesteckt, oder künstlich geschnitzte Vögel auf Zweige von Bäumen ge- setzt hätte und er darauf den Betrug entdeckte, das un- mittelbare Jnteresse was er vorher daran nahm, alsbald verschwinden, vielleicht aber ein anderes, nämlich das Jnteresse der Eitelkeit sein Zimmer für fremde Augen da- mit auszuschmücken, an dessen Stelle sich einfinden würde. Daß die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat: die- ser Gedanke muß die Anschauung und Reflexion beglei- ten und auf diesem gründet sich allein das unmittelbare Jnteresse, was man daran nimmt, sonst bleibt entweder ein bloßes Geschmacksurtheil, ohne alles Jnteresse, oder nur mit einem mittelbaren nämlich auf die Gesellschaft bezogenen verbunden übrig, welches letztere keine sichere Anzeige auf moralisch- gute Denkungsart abgiebt.
Dieser Vorzug der Naturschönheit vor der Kunst- schönheit, wenn jene gleich durch diese der Form nach so- gar übertroffen würde, dennoch an jener allein ein un- mittelbares Jnteresse zu nehmen, stimmt mit der geläu- terten und gründlichen Denkungsart aller Menschen überein, die ihr sittliches Gefühl cultivirt haben. Wenn
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
der Form nach, ſondern auch das Daſeyn deſſelben ge- faͤllt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil haͤtte, oder er auch irgend einen Zweck damit verbaͤnde.
Es iſt aber hiebey merkwuͤrdig, daß, wenn man dieſem Liebhaber des Schoͤnen in geheim hintergangen haͤtte und kuͤnſtliche Blumen (die man den natuͤrlichen ganz aͤhnlich verfertigen kann) in die Erde geſteckt, oder kuͤnſtlich geſchnitzte Voͤgel auf Zweige von Baͤumen ge- ſetzt haͤtte und er darauf den Betrug entdeckte, das un- mittelbare Jntereſſe was er vorher daran nahm, alsbald verſchwinden, vielleicht aber ein anderes, naͤmlich das Jntereſſe der Eitelkeit ſein Zimmer fuͤr fremde Augen da- mit auszuſchmuͤcken, an deſſen Stelle ſich einfinden wuͤrde. Daß die Natur jene Schoͤnheit hervorgebracht hat: die- ſer Gedanke muß die Anſchauung und Reflexion beglei- ten und auf dieſem gruͤndet ſich allein das unmittelbare Jntereſſe, was man daran nimmt, ſonſt bleibt entweder ein bloßes Geſchmacksurtheil, ohne alles Jntereſſe, oder nur mit einem mittelbaren naͤmlich auf die Geſellſchaft bezogenen verbunden uͤbrig, welches letztere keine ſichere Anzeige auf moraliſch- gute Denkungsart abgiebt.
Dieſer Vorzug der Naturſchoͤnheit vor der Kunſt- ſchoͤnheit, wenn jene gleich durch dieſe der Form nach ſo- gar uͤbertroffen wuͤrde, dennoch an jener allein ein un- mittelbares Jntereſſe zu nehmen, ſtimmt mit der gelaͤu- terten und gruͤndlichen Denkungsart aller Menſchen uͤberein, die ihr ſittliches Gefuͤhl cultivirt haben. Wenn
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
der Form nach, ſondern auch das Daſeyn deſſelben ge-
faͤllt, ohne daß ein Sinnenreiz daran Antheil haͤtte, oder
er auch irgend einen Zweck damit verbaͤnde.
Es iſt aber hiebey merkwuͤrdig, daß, wenn man
dieſem Liebhaber des Schoͤnen in geheim hintergangen
haͤtte und kuͤnſtliche Blumen (die man den natuͤrlichen
ganz aͤhnlich verfertigen kann) in die Erde geſteckt, oder
kuͤnſtlich geſchnitzte Voͤgel auf Zweige von Baͤumen ge-
ſetzt haͤtte und er darauf den Betrug entdeckte, das un-
mittelbare Jntereſſe was er vorher daran nahm, alsbald
verſchwinden, vielleicht aber ein anderes, naͤmlich das
Jntereſſe der Eitelkeit ſein Zimmer fuͤr fremde Augen da-
mit auszuſchmuͤcken, an deſſen Stelle ſich einfinden wuͤrde.
Daß die Natur jene Schoͤnheit hervorgebracht hat: die-
ſer Gedanke muß die Anſchauung und Reflexion beglei-
ten und auf dieſem gruͤndet ſich allein das unmittelbare
Jntereſſe, was man daran nimmt, ſonſt bleibt entweder
ein bloßes Geſchmacksurtheil, ohne alles Jntereſſe, oder
nur mit einem mittelbaren naͤmlich auf die Geſellſchaft
bezogenen verbunden uͤbrig, welches letztere keine ſichere
Anzeige auf moraliſch- gute Denkungsart abgiebt.
Dieſer Vorzug der Naturſchoͤnheit vor der Kunſt-
ſchoͤnheit, wenn jene gleich durch dieſe der Form nach ſo-
gar uͤbertroffen wuͤrde, dennoch an jener allein ein un-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/229>, abgerufen am 04.12.2024.
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