Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft. ein Mann, der Geschmack genug hat über Producte derschönen Kunst mit der größten Richtigkeit und Feinheit zu urtheilen, das Zimmer gern verläßt, in welchem jene, die Eitelkeit und allenfalls gesellschaftliche Freuden unterhaltende, Schönheiten anzutreffen sind, und sich zum Schönen der Natur wendet, um hier gleichsam Wol- lust für seinen Geist in einem Gedankengange zu finden, den er sich nie völlig entwickeln kann, so werden wir diese seine Wahl selber mit Hochachtung betrachten und in ihm eine schöne Seele voraussetzen, auf die kein Kunstkenner und Liebhaber, um des Jnteresse willen, das er an seinen Gegenständen nimmt, Anspruch machen kann. -- Was ist nun der Unterschied der so verschiedenen Schätzung zweyerley Objecte, die im Urtheile des bloßen Geschmacks einander kaum den Vorzug streitig machen würden? Wir haben ein Vermögen der blos ästhetischen Ur- I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. ein Mann, der Geſchmack genug hat uͤber Producte derſchoͤnen Kunſt mit der groͤßten Richtigkeit und Feinheit zu urtheilen, das Zimmer gern verlaͤßt, in welchem jene, die Eitelkeit und allenfalls geſellſchaftliche Freuden unterhaltende, Schoͤnheiten anzutreffen ſind, und ſich zum Schoͤnen der Natur wendet, um hier gleichſam Wol- luſt fuͤr ſeinen Geiſt in einem Gedankengange zu finden, den er ſich nie voͤllig entwickeln kann, ſo werden wir dieſe ſeine Wahl ſelber mit Hochachtung betrachten und in ihm eine ſchoͤne Seele vorausſetzen, auf die kein Kunſtkenner und Liebhaber, um des Jntereſſe willen, das er an ſeinen Gegenſtaͤnden nimmt, Anſpruch machen kann. — Was iſt nun der Unterſchied der ſo verſchiedenen Schaͤtzung zweyerley Objecte, die im Urtheile des bloßen Geſchmacks einander kaum den Vorzug ſtreitig machen wuͤrden? Wir haben ein Vermoͤgen der blos aͤſthetiſchen Ur- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0230" n="166"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/> ein Mann, der Geſchmack genug hat uͤber Producte der<lb/> ſchoͤnen Kunſt mit der groͤßten Richtigkeit und Feinheit<lb/> zu urtheilen, das Zimmer gern verlaͤßt, in welchem<lb/> jene, die Eitelkeit und allenfalls geſellſchaftliche Freuden<lb/> unterhaltende, Schoͤnheiten anzutreffen ſind, und ſich<lb/> zum Schoͤnen der Natur wendet, um hier gleichſam Wol-<lb/> luſt fuͤr ſeinen Geiſt in einem Gedankengange zu finden,<lb/> den er ſich nie voͤllig entwickeln kann, ſo werden wir dieſe<lb/> ſeine Wahl ſelber mit Hochachtung betrachten und in ihm<lb/> eine ſchoͤne Seele vorausſetzen, auf die kein Kunſtkenner<lb/> und Liebhaber, um des Jntereſſe willen, das er an ſeinen<lb/> Gegenſtaͤnden nimmt, Anſpruch machen kann. — Was<lb/> iſt nun der Unterſchied der ſo verſchiedenen Schaͤtzung<lb/> zweyerley Objecte, die im Urtheile des bloßen Geſchmacks<lb/> einander kaum den Vorzug ſtreitig machen wuͤrden?</p><lb/> <p>Wir haben ein Vermoͤgen der blos aͤſthetiſchen Ur-<lb/> theilskraft, ohne Begriffe uͤber Formen zu urtheilen,<lb/> und an der bloßen Beurtheilung derſelben ein Wohlge-<lb/> fallen zu finden, welches wir zugleich jedermann zur Re-<lb/> gel machen, ohne daß dieſes Urtheil ſich auf einem Jn-<lb/> tereſſe gruͤndet, noch ein ſolches hervorbringt. — An-<lb/> dererſeits haben wir auch ein Vermoͤgen einer intelle-<lb/> ctuellen Urtheilskraft fuͤr bloße Formen practiſcher Ma-<lb/> ximen (ſofern ſie ſich zur allgemeinen Geſetzgebung von<lb/> ſelbſt qualificiren) ein Wohlgefallen <hi rendition="#aq">a priori</hi> zu beſtim-<lb/> men, welches wir jedermann zum Geſetze machen, ohne<lb/> daß unſer Urtheil ſich auf irgend einem Jntereſſe gruͤndet,<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [166/0230]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
ein Mann, der Geſchmack genug hat uͤber Producte der
ſchoͤnen Kunſt mit der groͤßten Richtigkeit und Feinheit
zu urtheilen, das Zimmer gern verlaͤßt, in welchem
jene, die Eitelkeit und allenfalls geſellſchaftliche Freuden
unterhaltende, Schoͤnheiten anzutreffen ſind, und ſich
zum Schoͤnen der Natur wendet, um hier gleichſam Wol-
luſt fuͤr ſeinen Geiſt in einem Gedankengange zu finden,
den er ſich nie voͤllig entwickeln kann, ſo werden wir dieſe
ſeine Wahl ſelber mit Hochachtung betrachten und in ihm
eine ſchoͤne Seele vorausſetzen, auf die kein Kunſtkenner
und Liebhaber, um des Jntereſſe willen, das er an ſeinen
Gegenſtaͤnden nimmt, Anſpruch machen kann. — Was
iſt nun der Unterſchied der ſo verſchiedenen Schaͤtzung
zweyerley Objecte, die im Urtheile des bloßen Geſchmacks
einander kaum den Vorzug ſtreitig machen wuͤrden?
Wir haben ein Vermoͤgen der blos aͤſthetiſchen Ur-
theilskraft, ohne Begriffe uͤber Formen zu urtheilen,
und an der bloßen Beurtheilung derſelben ein Wohlge-
fallen zu finden, welches wir zugleich jedermann zur Re-
gel machen, ohne daß dieſes Urtheil ſich auf einem Jn-
tereſſe gruͤndet, noch ein ſolches hervorbringt. — An-
dererſeits haben wir auch ein Vermoͤgen einer intelle-
ctuellen Urtheilskraft fuͤr bloße Formen practiſcher Ma-
ximen (ſofern ſie ſich zur allgemeinen Geſetzgebung von
ſelbſt qualificiren) ein Wohlgefallen a priori zu beſtim-
men, welches wir jedermann zum Geſetze machen, ohne
daß unſer Urtheil ſich auf irgend einem Jntereſſe gruͤndet,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |