aber doch ein solches hervorbringt. Die Lust oder Unlust im ersteren Urtheile heißt die des Geschmacks, die zweyte des moralischen Gefühls.
Da es aber die Vernunft auch interessirt, daß die Jdeen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittel- bares Jnteresse bewirkt) auch objective Realität haben, d. i. daß die Natur wenigstens eine Spuhr zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund eine gesetzmäßige Uebereinstimmung ihrer Producte zu unserm von allem Jnteresse unabhängigen Wohlgefallen (welches wir a priori für jedermann als Gesetz erkennen, ohne dieses auf Beweisen gründen zu können) anzuneh- men: so muß die Vernunft an jeder Aeußerung der Na- tur von einer dieser ähnlichen Uebereinstimmung ein Jn- teresse nehmen; folglich kann das Gemüth über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich da- bey zugleich interessirt zu finden. Dieses Jnteresse aber ist der Verwandschaft nach moralisch und der, so es am Schönen der Natur nimmt, kann es nur sofern an dem- selben nehmen, als er vorher schon sein Jnteresse am Sittlichguten wohlgegründet hat. Wen also die Schön- heit der Natur unmittelbar interessirt, bey dem hat man Ursache wenigstens eine Anlage zu guter moralischen Ge- sinnung zu vermuthen.
Man wird sagen: diese Deutung ästhetischer Ur- theile auf Verwandschaft mit dem moralischen Gefühl sehe gar zu studirt aus, um sie für die wahre Auslegung
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
aber doch ein ſolches hervorbringt. Die Luſt oder Unluſt im erſteren Urtheile heißt die des Geſchmacks, die zweyte des moraliſchen Gefuͤhls.
Da es aber die Vernunft auch intereſſirt, daß die Jdeen (fuͤr die ſie im moraliſchen Gefuͤhle ein unmittel- bares Jntereſſe bewirkt) auch objective Realitaͤt haben, d. i. daß die Natur wenigſtens eine Spuhr zeige, oder einen Wink gebe, ſie enthalte in ſich irgend einen Grund eine geſetzmaͤßige Uebereinſtimmung ihrer Producte zu unſerm von allem Jntereſſe unabhaͤngigen Wohlgefallen (welches wir a priori fuͤr jedermann als Geſetz erkennen, ohne dieſes auf Beweiſen gruͤnden zu koͤnnen) anzuneh- men: ſo muß die Vernunft an jeder Aeußerung der Na- tur von einer dieſer aͤhnlichen Uebereinſtimmung ein Jn- tereſſe nehmen; folglich kann das Gemuͤth uͤber die Schoͤnheit der Natur nicht nachdenken, ohne ſich da- bey zugleich intereſſirt zu finden. Dieſes Jntereſſe aber iſt der Verwandſchaft nach moraliſch und der, ſo es am Schoͤnen der Natur nimmt, kann es nur ſofern an dem- ſelben nehmen, als er vorher ſchon ſein Jntereſſe am Sittlichguten wohlgegruͤndet hat. Wen alſo die Schoͤn- heit der Natur unmittelbar intereſſirt, bey dem hat man Urſache wenigſtens eine Anlage zu guter moraliſchen Ge- ſinnung zu vermuthen.
Man wird ſagen: dieſe Deutung aͤſthetiſcher Ur- theile auf Verwandſchaft mit dem moraliſchen Gefuͤhl ſehe gar zu ſtudirt aus, um ſie fuͤr die wahre Auslegung
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
aber doch ein ſolches hervorbringt. Die Luſt oder
Unluſt im erſteren Urtheile heißt die des Geſchmacks, die
zweyte des moraliſchen Gefuͤhls.
Da es aber die Vernunft auch intereſſirt, daß die
Jdeen (fuͤr die ſie im moraliſchen Gefuͤhle ein unmittel-
bares Jntereſſe bewirkt) auch objective Realitaͤt haben,
d. i. daß die Natur wenigſtens eine Spuhr zeige, oder
einen Wink gebe, ſie enthalte in ſich irgend einen Grund
eine geſetzmaͤßige Uebereinſtimmung ihrer Producte zu
unſerm von allem Jntereſſe unabhaͤngigen Wohlgefallen
(welches wir a priori fuͤr jedermann als Geſetz erkennen,
ohne dieſes auf Beweiſen gruͤnden zu koͤnnen) anzuneh-
men: ſo muß die Vernunft an jeder Aeußerung der Na-
tur von einer dieſer aͤhnlichen Uebereinſtimmung ein Jn-
tereſſe nehmen; folglich kann das Gemuͤth uͤber die
Schoͤnheit der Natur nicht nachdenken, ohne ſich da-
bey zugleich intereſſirt zu finden. Dieſes Jntereſſe aber
iſt der Verwandſchaft nach moraliſch und der, ſo es am
Schoͤnen der Natur nimmt, kann es nur ſofern an dem-
ſelben nehmen, als er vorher ſchon ſein Jntereſſe am
Sittlichguten wohlgegruͤndet hat. Wen alſo die Schoͤn-
heit der Natur unmittelbar intereſſirt, bey dem hat man
Urſache wenigſtens eine Anlage zu guter moraliſchen Ge-
ſinnung zu vermuthen.
Man wird ſagen: dieſe Deutung aͤſthetiſcher Ur-
theile auf Verwandſchaft mit dem moraliſchen Gefuͤhl
ſehe gar zu ſtudirt aus, um ſie fuͤr die wahre Auslegung
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/231>, abgerufen am 04.12.2024.
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