Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft. Sinne verstatten und so gleichsam eine Sprache, die dieNatur zu uns führt und die einen höhern Sinn zu ha- ben scheint, in sich enthalten. So scheint die weisse Farbe der Lilie das Gemüth zu Jdeen der Unschuld und nach der Ordnung der sieben Farben, von der rothen an bis zur violetten, 1) zur Jdee der Erhabenheit, 2) der Kühn- heit, 3) der Freymüthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5) der Bescheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und 7) der Zärtlichkeit zu stimmen. Der Gesang der Vögel verkün- digt Frölichkeit und Zufriedenheit mit seiner Existenz. Wenigstens so deuten wir die Natur aus, es mag der- gleichen ihre Absicht seyn oder nicht. Aber dieses Jn- teresse, welches wir hier an Schönheit nehmen, bedarf durchaus, daß es Schönheit der Natur sey und es ver- schwindet ganz sobald man bemerkt, man sey getäuscht und es sey nur Kunst, sogar, daß auch der Geschmack alsdenn nichts Schönes, oder das Gesicht etwas Rei- zendes mehr daran finden kann. Was wird von Dich- tern höher gepriesen als der bezaubernd schöne Schlag der Nachtigall, in einsamen Gebüschen, an einem stillen Sommerabende, bey dem sanften Lichte des Mondes? Jndessen hat man Beyspiele, daß, wo kein solcher Sän- ger angetroffen wird, irgend ein lustiger Wirth seine zum Genuß der Landluft bey ihm eingekehrten Gäste da- durch zu ihrer größten Zufriedenheit hintergangen hat, daß er einen muthwilligen Burschen, welcher diesen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Sinne verſtatten und ſo gleichſam eine Sprache, die dieNatur zu uns fuͤhrt und die einen hoͤhern Sinn zu ha- ben ſcheint, in ſich enthalten. So ſcheint die weiſſe Farbe der Lilie das Gemuͤth zu Jdeen der Unſchuld und nach der Ordnung der ſieben Farben, von der rothen an bis zur violetten, 1) zur Jdee der Erhabenheit, 2) der Kuͤhn- heit, 3) der Freymuͤthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5) der Beſcheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und 7) der Zaͤrtlichkeit zu ſtimmen. Der Geſang der Voͤgel verkuͤn- digt Froͤlichkeit und Zufriedenheit mit ſeiner Exiſtenz. Wenigſtens ſo deuten wir die Natur aus, es mag der- gleichen ihre Abſicht ſeyn oder nicht. Aber dieſes Jn- tereſſe, welches wir hier an Schoͤnheit nehmen, bedarf durchaus, daß es Schoͤnheit der Natur ſey und es ver- ſchwindet ganz ſobald man bemerkt, man ſey getaͤuſcht und es ſey nur Kunſt, ſogar, daß auch der Geſchmack alsdenn nichts Schoͤnes, oder das Geſicht etwas Rei- zendes mehr daran finden kann. Was wird von Dich- tern hoͤher geprieſen als der bezaubernd ſchoͤne Schlag der Nachtigall, in einſamen Gebuͤſchen, an einem ſtillen Sommerabende, bey dem ſanften Lichte des Mondes? Jndeſſen hat man Beyſpiele, daß, wo kein ſolcher Saͤn- ger angetroffen wird, irgend ein luſtiger Wirth ſeine zum Genuß der Landluft bey ihm eingekehrten Gaͤſte da- durch zu ihrer groͤßten Zufriedenheit hintergangen hat, daß er einen muthwilligen Burſchen, welcher dieſen Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0234" n="170"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/> Sinne verſtatten und ſo gleichſam eine Sprache, die die<lb/> Natur zu uns fuͤhrt und die einen hoͤhern Sinn zu ha-<lb/> ben ſcheint, in ſich enthalten. So ſcheint die weiſſe Farbe<lb/> der Lilie das Gemuͤth zu Jdeen der Unſchuld und nach der<lb/> Ordnung der ſieben Farben, von der rothen an bis zur<lb/> violetten, 1) zur Jdee der Erhabenheit, 2) der Kuͤhn-<lb/> heit, 3) der Freymuͤthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5)<lb/> der Beſcheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und 7) der<lb/> Zaͤrtlichkeit zu ſtimmen. Der Geſang der Voͤgel verkuͤn-<lb/> digt Froͤlichkeit und Zufriedenheit mit ſeiner Exiſtenz.<lb/> Wenigſtens ſo deuten wir die Natur aus, es mag der-<lb/> gleichen ihre Abſicht ſeyn oder nicht. Aber dieſes Jn-<lb/> tereſſe, welches wir hier an Schoͤnheit nehmen, bedarf<lb/> durchaus, daß es Schoͤnheit der Natur ſey und es ver-<lb/> ſchwindet ganz ſobald man bemerkt, man ſey getaͤuſcht<lb/> und es ſey nur Kunſt, ſogar, daß auch der Geſchmack<lb/> alsdenn nichts Schoͤnes, oder das Geſicht etwas Rei-<lb/> zendes mehr daran finden kann. Was wird von Dich-<lb/> tern hoͤher geprieſen als der bezaubernd ſchoͤne Schlag<lb/> der Nachtigall, in einſamen Gebuͤſchen, an einem ſtillen<lb/> Sommerabende, bey dem ſanften Lichte des Mondes?<lb/> Jndeſſen hat man Beyſpiele, daß, wo kein ſolcher Saͤn-<lb/> ger angetroffen wird, irgend ein luſtiger Wirth ſeine<lb/> zum Genuß der Landluft bey ihm eingekehrten Gaͤſte da-<lb/> durch zu ihrer groͤßten Zufriedenheit hintergangen hat,<lb/> daß er einen muthwilligen Burſchen, welcher dieſen<lb/> Schlag (mit Schilf oder Rohr im Munde) ganz der<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [170/0234]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Sinne verſtatten und ſo gleichſam eine Sprache, die die
Natur zu uns fuͤhrt und die einen hoͤhern Sinn zu ha-
ben ſcheint, in ſich enthalten. So ſcheint die weiſſe Farbe
der Lilie das Gemuͤth zu Jdeen der Unſchuld und nach der
Ordnung der ſieben Farben, von der rothen an bis zur
violetten, 1) zur Jdee der Erhabenheit, 2) der Kuͤhn-
heit, 3) der Freymuͤthigkeit, 4) der Freundlichkeit, 5)
der Beſcheidenheit, 6) der Standhaftigkeit und 7) der
Zaͤrtlichkeit zu ſtimmen. Der Geſang der Voͤgel verkuͤn-
digt Froͤlichkeit und Zufriedenheit mit ſeiner Exiſtenz.
Wenigſtens ſo deuten wir die Natur aus, es mag der-
gleichen ihre Abſicht ſeyn oder nicht. Aber dieſes Jn-
tereſſe, welches wir hier an Schoͤnheit nehmen, bedarf
durchaus, daß es Schoͤnheit der Natur ſey und es ver-
ſchwindet ganz ſobald man bemerkt, man ſey getaͤuſcht
und es ſey nur Kunſt, ſogar, daß auch der Geſchmack
alsdenn nichts Schoͤnes, oder das Geſicht etwas Rei-
zendes mehr daran finden kann. Was wird von Dich-
tern hoͤher geprieſen als der bezaubernd ſchoͤne Schlag
der Nachtigall, in einſamen Gebuͤſchen, an einem ſtillen
Sommerabende, bey dem ſanften Lichte des Mondes?
Jndeſſen hat man Beyſpiele, daß, wo kein ſolcher Saͤn-
ger angetroffen wird, irgend ein luſtiger Wirth ſeine
zum Genuß der Landluft bey ihm eingekehrten Gaͤſte da-
durch zu ihrer groͤßten Zufriedenheit hintergangen hat,
daß er einen muthwilligen Burſchen, welcher dieſen
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