Genie ist die angebohrne Gemüthsanlage (ingenium) durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt.
Was es auch mit dieser Definition für eine Be- wandnis habe und ob sie blos willkührlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte Genie zu ver- binden gewohnt ist, angemessen sey, oder nicht (welches in dem folgenden §. erörtert werden soll), so kann man doch schon zum Voraus beweisen, daß, nach der hier angenommenen Bedeutung des Worts, schöne Künste nothwendig als Künste des Genie's betrachtet werden müssen.
Denn eine jede Kunst setzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererst ein Product, wenn es künst- lich heissen soll, als möglich vorgestellt wird. Der Be- griff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urtheil über die Schönheit ihres Products von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen Begrif zum Be- stimmungsgrunde habe, mithin ohne einen Begrif von der Art, wie es möglich sey, zum Grunde zu legen. Also kann die schöne Kunst sich selbst nicht die Regel aus- denken, nach der sie ihr Product zu Stande bringen soll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Pro- duct niemals Kunst heißen kann, so muß die Natur im Subjecte (und durch die Stimmung der Vermögen dessel- ben) der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als Product des Genie's möglich.
M 2
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Genie iſt die angebohrne Gemuͤthsanlage (ingenium) durch welche die Natur der Kunſt die Regel giebt.
Was es auch mit dieſer Definition fuͤr eine Be- wandnis habe und ob ſie blos willkuͤhrlich, oder dem Begriffe, welchen man mit dem Worte Genie zu ver- binden gewohnt iſt, angemeſſen ſey, oder nicht (welches in dem folgenden §. eroͤrtert werden ſoll), ſo kann man doch ſchon zum Voraus beweiſen, daß, nach der hier angenommenen Bedeutung des Worts, ſchoͤne Kuͤnſte nothwendig als Kuͤnſte des Genie’s betrachtet werden muͤſſen.
Denn eine jede Kunſt ſetzt Regeln voraus, durch deren Grundlegung allererſt ein Product, wenn es kuͤnſt- lich heiſſen ſoll, als moͤglich vorgeſtellt wird. Der Be- griff der ſchoͤnen Kunſt aber verſtattet nicht, daß das Urtheil uͤber die Schoͤnheit ihres Products von irgend einer Regel abgeleitet werde, die einen Begrif zum Be- ſtimmungsgrunde habe, mithin ohne einen Begrif von der Art, wie es moͤglich ſey, zum Grunde zu legen. Alſo kann die ſchoͤne Kunſt ſich ſelbſt nicht die Regel aus- denken, nach der ſie ihr Product zu Stande bringen ſoll. Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Pro- duct niemals Kunſt heißen kann, ſo muß die Natur im Subjecte (und durch die Stimmung der Vermoͤgen deſſel- ben) der Kunſt die Regel geben, d. i. die ſchoͤne Kunſt iſt nur als Product des Genie’s moͤglich.
M 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0243"n="179"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/><hirendition="#fr">Genie</hi> iſt die angebohrne Gemuͤthsanlage (<hirendition="#aq">ingenium</hi>)<lb/><hirendition="#fr">durch welche</hi> die Natur der Kunſt die Regel giebt.</p><lb/><p>Was es auch mit dieſer Definition fuͤr eine Be-<lb/>
wandnis habe und ob ſie blos willkuͤhrlich, oder dem<lb/>
Begriffe, welchen man mit dem Worte <hirendition="#fr">Genie</hi> zu ver-<lb/>
binden gewohnt iſt, angemeſſen ſey, oder nicht (welches<lb/>
in dem folgenden §. eroͤrtert werden ſoll), ſo kann man<lb/>
doch ſchon zum Voraus beweiſen, daß, nach der hier<lb/>
angenommenen Bedeutung des Worts, ſchoͤne Kuͤnſte<lb/>
nothwendig als Kuͤnſte des <hirendition="#fr">Genie’s</hi> betrachtet werden<lb/>
muͤſſen.</p><lb/><p>Denn eine jede Kunſt ſetzt Regeln voraus, durch<lb/>
deren Grundlegung allererſt ein Product, wenn es kuͤnſt-<lb/>
lich heiſſen ſoll, als moͤglich vorgeſtellt wird. Der Be-<lb/>
griff der ſchoͤnen Kunſt aber verſtattet nicht, daß das<lb/>
Urtheil uͤber die Schoͤnheit ihres Products von irgend<lb/>
einer Regel abgeleitet werde, die einen <hirendition="#fr">Begrif</hi> zum Be-<lb/>ſtimmungsgrunde habe, mithin ohne einen Begrif von<lb/>
der Art, wie es moͤglich ſey, zum Grunde zu legen.<lb/>
Alſo kann die ſchoͤne Kunſt ſich ſelbſt nicht die Regel aus-<lb/>
denken, nach der ſie ihr Product zu Stande bringen ſoll.<lb/>
Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Pro-<lb/>
duct niemals Kunſt heißen kann, ſo muß die Natur im<lb/>
Subjecte (und durch die Stimmung der Vermoͤgen deſſel-<lb/>
ben) der Kunſt die Regel geben, d. i. die ſchoͤne Kunſt iſt<lb/>
nur als Product des Genie’s moͤglich.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">M 2</fw><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[179/0243]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Genie iſt die angebohrne Gemuͤthsanlage (ingenium)
durch welche die Natur der Kunſt die Regel giebt.
Was es auch mit dieſer Definition fuͤr eine Be-
wandnis habe und ob ſie blos willkuͤhrlich, oder dem
Begriffe, welchen man mit dem Worte Genie zu ver-
binden gewohnt iſt, angemeſſen ſey, oder nicht (welches
in dem folgenden §. eroͤrtert werden ſoll), ſo kann man
doch ſchon zum Voraus beweiſen, daß, nach der hier
angenommenen Bedeutung des Worts, ſchoͤne Kuͤnſte
nothwendig als Kuͤnſte des Genie’s betrachtet werden
muͤſſen.
Denn eine jede Kunſt ſetzt Regeln voraus, durch
deren Grundlegung allererſt ein Product, wenn es kuͤnſt-
lich heiſſen ſoll, als moͤglich vorgeſtellt wird. Der Be-
griff der ſchoͤnen Kunſt aber verſtattet nicht, daß das
Urtheil uͤber die Schoͤnheit ihres Products von irgend
einer Regel abgeleitet werde, die einen Begrif zum Be-
ſtimmungsgrunde habe, mithin ohne einen Begrif von
der Art, wie es moͤglich ſey, zum Grunde zu legen.
Alſo kann die ſchoͤne Kunſt ſich ſelbſt nicht die Regel aus-
denken, nach der ſie ihr Product zu Stande bringen ſoll.
Da nun gleichwohl ohne vorhergehende Regel ein Pro-
duct niemals Kunſt heißen kann, ſo muß die Natur im
Subjecte (und durch die Stimmung der Vermoͤgen deſſel-
ben) der Kunſt die Regel geben, d. i. die ſchoͤne Kunſt iſt
nur als Product des Genie’s moͤglich.
M 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/243>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.