Man sieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent sey, dasjenige, wozu sich keine bestimmte Regel geben läßt, hervorzubringen, nicht Geschicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg- lich daß Originalität seine erste Eigenschaft seyn müsse. 2) Daß, da es auch originalen Unsinn geben kann, seine Producte zugleich, Muster d. i. exemplarisch seyn müssen, mithin selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, an- deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der Beurtheilung, dienen müssen: 3) daß es, wie es sein Product zu Stande bringe selbst nicht wissenschaftlich an- zeigen könne, sondern daß es als Natur die Regel ge- be, und daher der Urheber eines Products, welches er seinem Genie verdankt, selbst nicht weiß, wie sich in ihm die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in seiner Ge- walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig aus- zudenken und anderen in Vorschriften mitzutheilen, die sie in den Stand setzen, gleichmäßige Producte hervorzubrin- gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von genius, dem eigenthümlichen einem Menschen bey der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebung jene originale Jdeen herrühreten, abgeleitet ist). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der Wissenschaft, sondern der Kunst die Regel vor- schreibe und dieses auch nur so fern sie schöne Kunst seyn soll.
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Man ſieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent ſey, dasjenige, wozu ſich keine beſtimmte Regel geben laͤßt, hervorzubringen, nicht Geſchicklichkeitsanlage zu dem, was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg- lich daß Originalitaͤt ſeine erſte Eigenſchaft ſeyn muͤſſe. 2) Daß, da es auch originalen Unſinn geben kann, ſeine Producte zugleich, Muſter d. i. exemplariſch ſeyn muͤſſen, mithin ſelbſt nicht durch Nachahmung entſprungen, an- deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der Beurtheilung, dienen muͤſſen: 3) daß es, wie es ſein Product zu Stande bringe ſelbſt nicht wiſſenſchaftlich an- zeigen koͤnne, ſondern daß es als Natur die Regel ge- be, und daher der Urheber eines Products, welches er ſeinem Genie verdankt, ſelbſt nicht weiß, wie ſich in ihm die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in ſeiner Ge- walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmaͤßig aus- zudenken und anderen in Vorſchriften mitzutheilen, die ſie in den Stand ſetzen, gleichmaͤßige Producte hervorzubrin- gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von genius, dem eigenthuͤmlichen einem Menſchen bey der Geburt mitgegebenen ſchuͤtzenden und leitenden Geiſt, von deſſen Eingebung jene originale Jdeen herruͤhreten, abgeleitet iſt). 4) Daß die Natur durch das Genie nicht der Wiſſenſchaft, ſondern der Kunſt die Regel vor- ſchreibe und dieſes auch nur ſo fern ſie ſchoͤne Kunſt ſeyn ſoll.
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Man ſieht hieraus, daß Genie 1) Ein Talent ſey,
dasjenige, wozu ſich keine beſtimmte Regel geben laͤßt,
hervorzubringen, nicht Geſchicklichkeitsanlage zu dem,
was nach irgend einer Regel gelernt werden kann, folg-
lich daß Originalitaͤt ſeine erſte Eigenſchaft ſeyn muͤſſe.
2) Daß, da es auch originalen Unſinn geben kann, ſeine
Producte zugleich, Muſter d. i. exemplariſch ſeyn muͤſſen,
mithin ſelbſt nicht durch Nachahmung entſprungen, an-
deren doch dazu, d. i. zum Richtmaaße oder Regel der
Beurtheilung, dienen muͤſſen: 3) daß es, wie es ſein
Product zu Stande bringe ſelbſt nicht wiſſenſchaftlich an-
zeigen koͤnne, ſondern daß es als Natur die Regel ge-
be, und daher der Urheber eines Products, welches er
ſeinem Genie verdankt, ſelbſt nicht weiß, wie ſich in ihm
die Jdeen dazu herbey finden, auch es nicht in ſeiner Ge-
walt hat, dergleichen nach Belieben oder planmaͤßig aus-
zudenken und anderen in Vorſchriften mitzutheilen, die ſie
in den Stand ſetzen, gleichmaͤßige Producte hervorzubrin-
gen (daher denn auch vermuthlich das Wort Genie von
genius, dem eigenthuͤmlichen einem Menſchen bey der
Geburt mitgegebenen ſchuͤtzenden und leitenden Geiſt,
von deſſen Eingebung jene originale Jdeen herruͤhreten,
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/244>, abgerufen am 04.12.2024.
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