Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurthei- len, brauche ich nicht vorher einen Begrif davon zu ha- ben, was der Gegenstand für ein Ding seyn solle, d. i. ich habe nicht nöthig, die materiale Zweckmäßigkeit (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt in der Beurtheilung für sich selbst. Wenn aber der Gegenstand für ein Product der Kunst gegeben ist und als solches für schön erklärt wer- den soll, so muß, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Causalität) voraussetzt, zuerst ein Begrif von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding seyn soll und, da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer innern Be- stimmung desselben als Zweck, die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurtheilung der Kunstschön- heit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen, wornach in der Beurtheilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist. -- Zwar wird in der Beurtheilung, vor- nehmlich der belebten Gegenstände der Natur, z. B. des Menschen oder eines Pferdes, auch die objective Zweck- mäßigkeit gemeiniglich mit in Betracht gezogen, um über die Schönheit derselben zu urtheilen, alsdenn ist aber auch das Urtheil nicht mehr rein-ästhetisch, d. i. bloßes Geschmacksurtheil. Die Natur wird nicht mehr beurtheilt wie sie als Kunst erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche) Kunst ist und das te-
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Um eine Naturſchoͤnheit als eine ſolche zu beurthei- len, brauche ich nicht vorher einen Begrif davon zu ha- ben, was der Gegenſtand fuͤr ein Ding ſeyn ſolle, d. i. ich habe nicht noͤthig, die materiale Zweckmaͤßigkeit (den Zweck) zu kennen, ſondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefaͤllt in der Beurtheilung fuͤr ſich ſelbſt. Wenn aber der Gegenſtand fuͤr ein Product der Kunſt gegeben iſt und als ſolches fuͤr ſchoͤn erklaͤrt wer- den ſoll, ſo muß, weil Kunſt immer einen Zweck in der Urſache (und deren Cauſalitaͤt) vorausſetzt, zuerſt ein Begrif von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding ſeyn ſoll und, da die Zuſammenſtimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer innern Be- ſtimmung deſſelben als Zweck, die Vollkommenheit des Dinges iſt, ſo wird in der Beurtheilung der Kunſtſchoͤn- heit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anſchlag gebracht werden muͤſſen, wornach in der Beurtheilung einer Naturſchoͤnheit (als einer ſolchen) gar nicht die Frage iſt. — Zwar wird in der Beurtheilung, vor- nehmlich der belebten Gegenſtaͤnde der Natur, z. B. des Menſchen oder eines Pferdes, auch die objective Zweck- maͤßigkeit gemeiniglich mit in Betracht gezogen, um uͤber die Schoͤnheit derſelben zu urtheilen, alsdenn iſt aber auch das Urtheil nicht mehr rein-aͤſthetiſch, d. i. bloßes Geſchmacksurtheil. Die Natur wird nicht mehr beurtheilt wie ſie als Kunſt erſcheint, ſondern ſofern ſie wirklich (obzwar uͤbermenſchliche) Kunſt iſt und das te-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Um eine Naturſchoͤnheit als eine ſolche zu beurthei-
len, brauche ich nicht vorher einen Begrif davon zu ha-
ben, was der Gegenſtand fuͤr ein Ding ſeyn ſolle, d. i.
ich habe nicht noͤthig, die materiale Zweckmaͤßigkeit
(den Zweck) zu kennen, ſondern die bloße Form ohne
Kenntnis des Zwecks gefaͤllt in der Beurtheilung fuͤr ſich
ſelbſt. Wenn aber der Gegenſtand fuͤr ein Product der
Kunſt gegeben iſt und als ſolches fuͤr ſchoͤn erklaͤrt wer-
den ſoll, ſo muß, weil Kunſt immer einen Zweck in der
Urſache (und deren Cauſalitaͤt) vorausſetzt, zuerſt ein
Begrif von dem zum Grunde gelegt werden, was das
Ding ſeyn ſoll und, da die Zuſammenſtimmung des
Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer innern Be-
ſtimmung deſſelben als Zweck, die Vollkommenheit des
Dinges iſt, ſo wird in der Beurtheilung der Kunſtſchoͤn-
heit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anſchlag
gebracht werden muͤſſen, wornach in der Beurtheilung
einer Naturſchoͤnheit (als einer ſolchen) gar nicht die
Frage iſt. — Zwar wird in der Beurtheilung, vor-
nehmlich der belebten Gegenſtaͤnde der Natur, z. B. des
Menſchen oder eines Pferdes, auch die objective Zweck-
maͤßigkeit gemeiniglich mit in Betracht gezogen, um
uͤber die Schoͤnheit derſelben zu urtheilen, alsdenn iſt
aber auch das Urtheil nicht mehr rein-aͤſthetiſch, d. i.
bloßes Geſchmacksurtheil. Die Natur wird nicht mehr
beurtheilt wie ſie als Kunſt erſcheint, ſondern ſofern ſie
wirklich (obzwar uͤbermenſchliche) Kunſt iſt und das te-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/250>, abgerufen am 04.12.2024.
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