Mit einem Worte, die ästhetische Jdee ist eine einem gegebenen Begriffe beygesellete Vorstellung der Einbil- dungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freyen Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen be- stimmten Begrif bezeichnet, gefunden werden kann, der also viel Unnennbares zu einem Begriffe hinzu denken läßt, davon das Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.
Die Gemüthskräfte also, deren Vereinigung (in gewissem Verhältnisse) das Genie ausmachen, sind Einbildungskraft und Verstand. Nur, da im Ge- brauch der Einbildungskraft zum Erkenntnisse die Ein- bildungskraft unter dem Zwange des Verstandes und der Beschränkung unterworfen ist, dem Begriffe dessel- ben angemessen zu seyn, in ästhetischer Absicht aber die Einbildungskraft frey ist, um über jene Einstimmung zum Begriffe noch ungesucht reichhaltigen unentwickel- ten Stoff für den Verstand, worauf dieser in seinem Be-
über dem Tempel der Jsis, (der Mutter Natur): "Jch bin alles was da ist, was da war, und was da seyn wird, und meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgedeckt." Segner benutzte diese Jdee, durch eine sinnreiche seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel zu führen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüth zu feyerli- cher Aufmerksamkeit stimmen soll.
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Mit einem Worte, die aͤſthetiſche Jdee iſt eine einem gegebenen Begriffe beygeſellete Vorſtellung der Einbil- dungskraft, welche mit einer ſolchen Mannigfaltigkeit der Theilvorſtellungen in dem freyen Gebrauche derſelben verbunden iſt, daß fuͤr ſie kein Ausdruck, der einen be- ſtimmten Begrif bezeichnet, gefunden werden kann, der alſo viel Unnennbares zu einem Begriffe hinzu denken laͤßt, davon das Gefuͤhl die Erkenntnisvermoͤgen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchſtaben, Geiſt verbindet.
Die Gemuͤthskraͤfte alſo, deren Vereinigung (in gewiſſem Verhaͤltniſſe) das Genie ausmachen, ſind Einbildungskraft und Verſtand. Nur, da im Ge- brauch der Einbildungskraft zum Erkenntniſſe die Ein- bildungskraft unter dem Zwange des Verſtandes und der Beſchraͤnkung unterworfen iſt, dem Begriffe deſſel- ben angemeſſen zu ſeyn, in aͤſthetiſcher Abſicht aber die Einbildungskraft frey iſt, um uͤber jene Einſtimmung zum Begriffe noch ungeſucht reichhaltigen unentwickel- ten Stoff fuͤr den Verſtand, worauf dieſer in ſeinem Be-
uͤber dem Tempel der Jſis, (der Mutter Natur): „Jch bin alles was da iſt, was da war, und was da ſeyn wird, und meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgedeckt.“ Segner benutzte dieſe Jdee, durch eine ſinnreiche ſeiner Naturlehre vorgeſetzte Vignette, um ſeinen Lehrling, den er in dieſen Tempel zu fuͤhren bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfuͤllen, der das Gemuͤth zu feyerli- cher Aufmerkſamkeit ſtimmen ſoll.
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Mit einem Worte, die aͤſthetiſche Jdee iſt eine einem
gegebenen Begriffe beygeſellete Vorſtellung der Einbil-
dungskraft, welche mit einer ſolchen Mannigfaltigkeit
der Theilvorſtellungen in dem freyen Gebrauche derſelben
verbunden iſt, daß fuͤr ſie kein Ausdruck, der einen be-
ſtimmten Begrif bezeichnet, gefunden werden kann, der
alſo viel Unnennbares zu einem Begriffe hinzu denken
laͤßt, davon das Gefuͤhl die Erkenntnisvermoͤgen belebt
und mit der Sprache, als bloßem Buchſtaben, Geiſt
verbindet.
Die Gemuͤthskraͤfte alſo, deren Vereinigung (in
gewiſſem Verhaͤltniſſe) das Genie ausmachen, ſind
Einbildungskraft und Verſtand. Nur, da im Ge-
brauch der Einbildungskraft zum Erkenntniſſe die Ein-
bildungskraft unter dem Zwange des Verſtandes und
der Beſchraͤnkung unterworfen iſt, dem Begriffe deſſel-
ben angemeſſen zu ſeyn, in aͤſthetiſcher Abſicht aber die
Einbildungskraft frey iſt, um uͤber jene Einſtimmung
zum Begriffe noch ungeſucht reichhaltigen unentwickel-
ten Stoff fuͤr den Verſtand, worauf dieſer in ſeinem Be-
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*) uͤber dem Tempel der Jſis, (der Mutter Natur): „Jch
bin alles was da iſt, was da war, und was da ſeyn wird,
und meinen Schleyer hat kein Sterblicher aufgedeckt.“
Segner benutzte dieſe Jdee, durch eine ſinnreiche ſeiner
Naturlehre vorgeſetzte Vignette, um ſeinen Lehrling, den
er in dieſen Tempel zu fuͤhren bereit war, vorher mit dem
heiligen Schauer zu erfuͤllen, der das Gemuͤth zu feyerli-
cher Aufmerkſamkeit ſtimmen ſoll.
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/259>, abgerufen am 26.06.2024.
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