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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

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I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
lassen. So verbreitet die Sonne, nachdem sie ihren Ta-
geslauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel
und die letzte Strahlen, die sie in die Lüfte schickt, sind
ihre letzte Seufzer für das Wohl der Welt," so belebt er
seine Vernunftidee, von weltbürgerlicher Gesinnung
noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches
die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle An-
nehmlichkeiten eines vollbrachten schönen Sommertages,
die uns ein heiterer Abend ins Gemüth ruft) jener Vor-
stellung beygesellt und welches eine Menge von Empfin-
dungen und Nebenvorstellungen rege macht, für die sich
kein Ausdruck findet. Andererseits kann sogar ein in-
tellectueller Begrif umgekehrt zum Attribut einer Vor-
stellung der Sinne dienen und so diese letztern durch die
Jdee des Uebersinnlichen beleben, aber nur indem das
Aesthetische, was dem Bewußtseyn des letzteren subjectiv
anhänglich ist, hiezu gebraucht wird. So sagt z. B. ein
gewisser Dichter in der Beschreibung eines schönen Mor-
gens: "die Sonne quoll hervor wie Ruh aus Tugend
quillt." Das Bewußtseyn der Tugend, wenn man sich
auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften
versetzt, verbreitet im Gemüthe eine Menge erhabener
und beruhigender Gefühle und eine grenzenlose Aussicht
in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem
bestimmten Begriffe angemessen ist, völlig erreicht *).

*) Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt, oder ein Ge-
danke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
laſſen. So verbreitet die Sonne, nachdem ſie ihren Ta-
geslauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel
und die letzte Strahlen, die ſie in die Luͤfte ſchickt, ſind
ihre letzte Seufzer fuͤr das Wohl der Welt,“ ſo belebt er
ſeine Vernunftidee, von weltbuͤrgerlicher Geſinnung
noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches
die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle An-
nehmlichkeiten eines vollbrachten ſchoͤnen Sommertages,
die uns ein heiterer Abend ins Gemuͤth ruft) jener Vor-
ſtellung beygeſellt und welches eine Menge von Empfin-
dungen und Nebenvorſtellungen rege macht, fuͤr die ſich
kein Ausdruck findet. Andererſeits kann ſogar ein in-
tellectueller Begrif umgekehrt zum Attribut einer Vor-
ſtellung der Sinne dienen und ſo dieſe letztern durch die
Jdee des Ueberſinnlichen beleben, aber nur indem das
Aeſthetiſche, was dem Bewußtſeyn des letzteren ſubjectiv
anhaͤnglich iſt, hiezu gebraucht wird. So ſagt z. B. ein
gewiſſer Dichter in der Beſchreibung eines ſchoͤnen Mor-
gens: „die Sonne quoll hervor wie Ruh aus Tugend
quillt.“ Das Bewußtſeyn der Tugend, wenn man ſich
auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften
verſetzt, verbreitet im Gemuͤthe eine Menge erhabener
und beruhigender Gefuͤhle und eine grenzenloſe Ausſicht
in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem
beſtimmten Begriffe angemeſſen iſt, voͤllig erreicht *).

*) Vielleicht iſt nie etwas Erhabeneres geſagt, oder ein Ge-
danke erhabener ausgedruͤckt worden, als in jener Aufſchrift
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[194/0258] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. laſſen. So verbreitet die Sonne, nachdem ſie ihren Ta- geslauf vollendet hat, noch ein mildes Licht am Himmel und die letzte Strahlen, die ſie in die Luͤfte ſchickt, ſind ihre letzte Seufzer fuͤr das Wohl der Welt,“ ſo belebt er ſeine Vernunftidee, von weltbuͤrgerlicher Geſinnung noch am Ende des Lebens, durch ein Attribut, welches die Einbildungskraft (in der Erinnerung an alle An- nehmlichkeiten eines vollbrachten ſchoͤnen Sommertages, die uns ein heiterer Abend ins Gemuͤth ruft) jener Vor- ſtellung beygeſellt und welches eine Menge von Empfin- dungen und Nebenvorſtellungen rege macht, fuͤr die ſich kein Ausdruck findet. Andererſeits kann ſogar ein in- tellectueller Begrif umgekehrt zum Attribut einer Vor- ſtellung der Sinne dienen und ſo dieſe letztern durch die Jdee des Ueberſinnlichen beleben, aber nur indem das Aeſthetiſche, was dem Bewußtſeyn des letzteren ſubjectiv anhaͤnglich iſt, hiezu gebraucht wird. So ſagt z. B. ein gewiſſer Dichter in der Beſchreibung eines ſchoͤnen Mor- gens: „die Sonne quoll hervor wie Ruh aus Tugend quillt.“ Das Bewußtſeyn der Tugend, wenn man ſich auch nur in Gedanken in die Stelle eines Tugendhaften verſetzt, verbreitet im Gemuͤthe eine Menge erhabener und beruhigender Gefuͤhle und eine grenzenloſe Ausſicht in eine frohe Zukunft, die kein Ausdruck, welcher einem beſtimmten Begriffe angemeſſen iſt, voͤllig erreicht *). *) Vielleicht iſt nie etwas Erhabeneres geſagt, oder ein Ge- danke erhabener ausgedruͤckt worden, als in jener Aufſchrift

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/258>, abgerufen am 16.07.2024.