Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Th. Critik der teleologischen Urtheilskraft.
ser Jdee von einem Naturzwecke zuvörderst durch ein
Beyspiel erläutern, ehe wir sie völlig aus einander setzen.

Ein Baum zeugt erstlich einen andern Baum nach
einem bekannten Naturgesetze. Der Baum aber, den
er erzeugt ist von derselben Gattung und so erzeugt er
sich selbst der Gattung nach, in der er einerseits als
Wirkung, andrerseits als Ursache von sich selbst unauf-
hörlich hervorgebracht und, eben so, sich selbst oft her-
vorbringend sich, als Gattung, beständig erhält.

Zweytens erzeugt ein Baum sich auch selbst als
Jndividnum. Diese Art von Wirkung nennen wir
zwar nur das Wachsthum; aber dieser ist in solchem
Sinne zu nehmen, daß er von jeder andern Größenzu-
nahme nach mechanischen Gesetzen gänzlich unterschieden
und einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Nah-
men, gleich zu achten ist. Die Materie, die er zu sich
hinzu setzt, verarbeitet dieses Gewächs vorher zu speci-
fisch-eigenthümlicher Qualität, die der Naturmechanism
ausser ihr nicht liefern kann und bildet sich selbst weiter
aus, vermittelst eines Stoffes, der, seiner Mischung
nach, sein eigeues Product ist. Denn, ob er zwar, was
die Bestandtheile betrift, die er von der Natur ausser
ihm erhält, nur als Educt angesehen werden muß, so
ist doch in der Scheidung und neuen Zusammensetzung
dieses rohen Stoffs eine solche Originalität des Schei-
dungs- und Bildungsvermögens dieser Art Naturwesen
anzutreffen, von der alle Kunst unendlich weit entfernt

II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
ſer Jdee von einem Naturzwecke zuvoͤrderſt durch ein
Beyſpiel erlaͤutern, ehe wir ſie voͤllig aus einander ſetzen.

Ein Baum zeugt erſtlich einen andern Baum nach
einem bekannten Naturgeſetze. Der Baum aber, den
er erzeugt iſt von derſelben Gattung und ſo erzeugt er
ſich ſelbſt der Gattung nach, in der er einerſeits als
Wirkung, andrerſeits als Urſache von ſich ſelbſt unauf-
hoͤrlich hervorgebracht und, eben ſo, ſich ſelbſt oft her-
vorbringend ſich, als Gattung, beſtaͤndig erhaͤlt.

Zweytens erzeugt ein Baum ſich auch ſelbſt als
Jndividnum. Dieſe Art von Wirkung nennen wir
zwar nur das Wachsthum; aber dieſer iſt in ſolchem
Sinne zu nehmen, daß er von jeder andern Groͤßenzu-
nahme nach mechaniſchen Geſetzen gaͤnzlich unterſchieden
und einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Nah-
men, gleich zu achten iſt. Die Materie, die er zu ſich
hinzu ſetzt, verarbeitet dieſes Gewaͤchs vorher zu ſpeci-
fiſch-eigenthuͤmlicher Qualitaͤt, die der Naturmechanism
auſſer ihr nicht liefern kann und bildet ſich ſelbſt weiter
aus, vermittelſt eines Stoffes, der, ſeiner Miſchung
nach, ſein eigeues Product iſt. Denn, ob er zwar, was
die Beſtandtheile betrift, die er von der Natur auſſer
ihm erhaͤlt, nur als Educt angeſehen werden muß, ſo
iſt doch in der Scheidung und neuen Zuſammenſetzung
dieſes rohen Stoffs eine ſolche Originalitaͤt des Schei-
dungs- und Bildungsvermoͤgens dieſer Art Naturweſen
anzutreffen, von der alle Kunſt unendlich weit entfernt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0347" n="283"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Th. Critik der teleologi&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
&#x017F;er Jdee von einem Naturzwecke zuvo&#x0364;rder&#x017F;t durch ein<lb/>
Bey&#x017F;piel erla&#x0364;utern, ehe wir &#x017F;ie vo&#x0364;llig aus einander &#x017F;etzen.</p><lb/>
            <p>Ein Baum zeugt er&#x017F;tlich einen andern Baum nach<lb/>
einem bekannten Naturge&#x017F;etze. Der Baum aber, den<lb/>
er erzeugt i&#x017F;t von der&#x017F;elben Gattung und &#x017F;o erzeugt er<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t der <hi rendition="#fr">Gattung</hi> nach, in der er einer&#x017F;eits als<lb/>
Wirkung, andrer&#x017F;eits als Ur&#x017F;ache von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t unauf-<lb/>
ho&#x0364;rlich hervorgebracht und, eben &#x017F;o, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t oft her-<lb/>
vorbringend &#x017F;ich, als Gattung, be&#x017F;ta&#x0364;ndig erha&#x0364;lt.</p><lb/>
            <p>Zweytens erzeugt ein Baum &#x017F;ich auch &#x017F;elb&#x017F;t als<lb/><hi rendition="#fr">Jndividnum</hi>. Die&#x017F;e Art von Wirkung nennen wir<lb/>
zwar nur das Wachsthum; aber die&#x017F;er i&#x017F;t in &#x017F;olchem<lb/>
Sinne zu nehmen, daß er von jeder andern Gro&#x0364;ßenzu-<lb/>
nahme nach mechani&#x017F;chen Ge&#x017F;etzen ga&#x0364;nzlich unter&#x017F;chieden<lb/>
und einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Nah-<lb/>
men, gleich zu achten i&#x017F;t. Die Materie, die er zu &#x017F;ich<lb/>
hinzu &#x017F;etzt, verarbeitet die&#x017F;es Gewa&#x0364;chs vorher zu &#x017F;peci-<lb/>
fi&#x017F;ch-eigenthu&#x0364;mlicher Qualita&#x0364;t, die der Naturmechanism<lb/>
au&#x017F;&#x017F;er ihr nicht liefern kann und bildet &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t weiter<lb/>
aus, vermittel&#x017F;t eines Stoffes, der, &#x017F;einer Mi&#x017F;chung<lb/>
nach, &#x017F;ein eigeues Product i&#x017F;t. Denn, ob er zwar, was<lb/>
die Be&#x017F;tandtheile betrift, die er von der Natur au&#x017F;&#x017F;er<lb/>
ihm erha&#x0364;lt, nur als Educt ange&#x017F;ehen werden muß, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t doch in der Scheidung und neuen Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung<lb/>
die&#x017F;es rohen Stoffs eine &#x017F;olche Originalita&#x0364;t des Schei-<lb/>
dungs- und Bildungsvermo&#x0364;gens die&#x017F;er Art Naturwe&#x017F;en<lb/>
anzutreffen, von der alle Kun&#x017F;t unendlich weit entfernt<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[283/0347] II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft. ſer Jdee von einem Naturzwecke zuvoͤrderſt durch ein Beyſpiel erlaͤutern, ehe wir ſie voͤllig aus einander ſetzen. Ein Baum zeugt erſtlich einen andern Baum nach einem bekannten Naturgeſetze. Der Baum aber, den er erzeugt iſt von derſelben Gattung und ſo erzeugt er ſich ſelbſt der Gattung nach, in der er einerſeits als Wirkung, andrerſeits als Urſache von ſich ſelbſt unauf- hoͤrlich hervorgebracht und, eben ſo, ſich ſelbſt oft her- vorbringend ſich, als Gattung, beſtaͤndig erhaͤlt. Zweytens erzeugt ein Baum ſich auch ſelbſt als Jndividnum. Dieſe Art von Wirkung nennen wir zwar nur das Wachsthum; aber dieſer iſt in ſolchem Sinne zu nehmen, daß er von jeder andern Groͤßenzu- nahme nach mechaniſchen Geſetzen gaͤnzlich unterſchieden und einer Zeugung, wiewohl unter einem andern Nah- men, gleich zu achten iſt. Die Materie, die er zu ſich hinzu ſetzt, verarbeitet dieſes Gewaͤchs vorher zu ſpeci- fiſch-eigenthuͤmlicher Qualitaͤt, die der Naturmechanism auſſer ihr nicht liefern kann und bildet ſich ſelbſt weiter aus, vermittelſt eines Stoffes, der, ſeiner Miſchung nach, ſein eigeues Product iſt. Denn, ob er zwar, was die Beſtandtheile betrift, die er von der Natur auſſer ihm erhaͤlt, nur als Educt angeſehen werden muß, ſo iſt doch in der Scheidung und neuen Zuſammenſetzung dieſes rohen Stoffs eine ſolche Originalitaͤt des Schei- dungs- und Bildungsvermoͤgens dieſer Art Naturweſen anzutreffen, von der alle Kunſt unendlich weit entfernt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/347
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/347>, abgerufen am 05.12.2024.