regulatives Princip für die reflectirende Urtheilskraft ist.
Anmerkung.
Dieser moralische Beweis ist nicht etwa ein neu erfunde- ner, sondern allenfalls nur ein neuerörterter Beweisgrund; denn er hat vor der frühesten Aufkeimung des menschlichen Vernunftvermögens schon in demselben gelegen und wird mit der fortgehenden Cultur desselben nur immer mehr entwickelt. Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflectiren anfiengen, in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen, sie nutzten, ohne sich da- bei etwas Anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu den- ken, mußte sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerley seyn könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten ha- be, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sicht- barlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Ver- brechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme warnähmen, es müsse anders zugehen; mithin mußte auch die, obgleich dunkle Vorstellung, von etwas dem sie nachzustreben sich verbunden fühlten, verborgen liegen, womit ein solcher Ausschlag sich gar nicht zusammenreimen lasse, oder womit, wenn sie den Weltlauf einmal als die ein- zige Ordnung der Dinge ansahen, sie wiederum jene innere Zweckbestimmung ihres Gemüths nicht zu vereinigen wußten. Nun mochten sie die Art, wie eine solche Unregelmäßigkeit (welche dem menschlichen Gemüthe weit empörender seyn muß, als der blinde Zufall, den man etwa der Naturbe- urtheilung zum Princip unterlegen wollte) ausgeglichen wer- den könne, sich auf mancherley noch so grobe Art vorstellen, so konnten sie sich doch niemals ein anderes Princip der Mög-
Kants Crit. d. Urtheilskr E e
II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
regulatives Princip fuͤr die reflectirende Urtheilskraft iſt.
Anmerkung.
Dieſer moraliſche Beweis iſt nicht etwa ein neu erfunde- ner, ſondern allenfalls nur ein neueroͤrterter Beweisgrund; denn er hat vor der fruͤheſten Aufkeimung des menſchlichen Vernunftvermoͤgens ſchon in demſelben gelegen und wird mit der fortgehenden Cultur deſſelben nur immer mehr entwickelt. Sobald die Menſchen uͤber Recht und Unrecht zu reflectiren anfiengen, in einer Zeit, wo ſie uͤber die Zweckmaͤßigkeit der Natur noch gleichguͤltig wegſahen, ſie nutzten, ohne ſich da- bei etwas Anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu den- ken, mußte ſich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerley ſeyn koͤnne, ob ein Menſch ſich redlich oder falſch, billig oder gewaltthaͤtig verhalten ha- be, wenn er gleich bis an ſein Lebensende, wenigſtens ſicht- barlich, fuͤr ſeine Tugenden kein Gluͤck, oder fuͤr ſeine Ver- brechen keine Strafe angetroffen habe. Es iſt: als ob ſie in ſich eine Stimme warnaͤhmen, es muͤſſe anders zugehen; mithin mußte auch die, obgleich dunkle Vorſtellung, von etwas dem ſie nachzuſtreben ſich verbunden fuͤhlten, verborgen liegen, womit ein ſolcher Ausſchlag ſich gar nicht zuſammenreimen laſſe, oder womit, wenn ſie den Weltlauf einmal als die ein- zige Ordnung der Dinge anſahen, ſie wiederum jene innere Zweckbeſtimmung ihres Gemuͤths nicht zu vereinigen wußten. Nun mochten ſie die Art, wie eine ſolche Unregelmaͤßigkeit (welche dem menſchlichen Gemuͤthe weit empoͤrender ſeyn muß, als der blinde Zufall, den man etwa der Naturbe- urtheilung zum Princip unterlegen wollte) ausgeglichen wer- den koͤnne, ſich auf mancherley noch ſo grobe Art vorſtellen, ſo konnten ſie ſich doch niemals ein anderes Princip der Moͤg-
Kants Crit. d. Urtheilskr E e
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II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
regulatives Princip fuͤr die reflectirende Urtheilskraft
iſt.
Anmerkung.
Dieſer moraliſche Beweis iſt nicht etwa ein neu erfunde-
ner, ſondern allenfalls nur ein neueroͤrterter Beweisgrund;
denn er hat vor der fruͤheſten Aufkeimung des menſchlichen
Vernunftvermoͤgens ſchon in demſelben gelegen und wird mit
der fortgehenden Cultur deſſelben nur immer mehr entwickelt.
Sobald die Menſchen uͤber Recht und Unrecht zu reflectiren
anfiengen, in einer Zeit, wo ſie uͤber die Zweckmaͤßigkeit der
Natur noch gleichguͤltig wegſahen, ſie nutzten, ohne ſich da-
bei etwas Anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu den-
ken, mußte ſich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es
im Ausgange nimmermehr einerley ſeyn koͤnne, ob ein Menſch
ſich redlich oder falſch, billig oder gewaltthaͤtig verhalten ha-
be, wenn er gleich bis an ſein Lebensende, wenigſtens ſicht-
barlich, fuͤr ſeine Tugenden kein Gluͤck, oder fuͤr ſeine Ver-
brechen keine Strafe angetroffen habe. Es iſt: als ob ſie in
ſich eine Stimme warnaͤhmen, es muͤſſe anders zugehen;
mithin mußte auch die, obgleich dunkle Vorſtellung, von etwas
dem ſie nachzuſtreben ſich verbunden fuͤhlten, verborgen liegen,
womit ein ſolcher Ausſchlag ſich gar nicht zuſammenreimen
laſſe, oder womit, wenn ſie den Weltlauf einmal als die ein-
zige Ordnung der Dinge anſahen, ſie wiederum jene innere
Zweckbeſtimmung ihres Gemuͤths nicht zu vereinigen wußten.
Nun mochten ſie die Art, wie eine ſolche Unregelmaͤßigkeit
(welche dem menſchlichen Gemuͤthe weit empoͤrender ſeyn
muß, als der blinde Zufall, den man etwa der Naturbe-
urtheilung zum Princip unterlegen wollte) ausgeglichen wer-
den koͤnne, ſich auf mancherley noch ſo grobe Art vorſtellen,
ſo konnten ſie ſich doch niemals ein anderes Princip der Moͤg-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/497>, abgerufen am 05.12.2024.
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