dem Urwesen zum Behuf der gesammten Naturerkenntnis, oder einen practischen für die Religion verlangen.
Dieses aus der physischen Teleologie genommene Argu- ment ist verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Ueberzeugung auf den gemeinen Verstand, als auf den sub- tilsten Denker und ein Reimarus in seinem noch nicht über- troffenen Werke, worinn er diesen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläuftig ausführt, hat sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben -- Allein wodurch gewinnt dieser Beweis so gewaltigen Einfluß aufs Gemüth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver- nunft (denn die Rührung und Erhebung desselben durch die Wunder der Natur könnte man zur Ueberredung rechnen) auf eine ruhige, sich gänzlich dahin gebende Beystimmung? Es sind nicht die physische Zwecke, die alle auf einen uner- gründlichen Verstand in der Weltursache hindeuten; denn diese sind dazu unzureichend, weil sie das Bedürfnis der fra- genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu sind (frägt diese) alle jene künstliche Naturdinge, wozu der Mensch selbst bey dem wir, als dem letzten für uns denkbaren Zwecke der Natur stehen bleiben müssen, wozu ist diese gesammte Natur da und was ist der Endzweck so großer und mannigfaltiger Kunst? Zum Genießen, oder zum Anschauen, Betrachten und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts weiter als Genuß von besonderer Art ist) als dem letzten End- zweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist, geschaf- fen zu seyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn diese setzt einen persöhnlichen Werth, den der Mensch sich allein geben kann, als Bedingung unter der allein er und sein Daseyn Endzweck seyn kann, voraus; in Erman- gelung dessen (der allein eines bestimmten Begrifs fähig ist) die Zwecke der Natur seiner Nachfrage nicht Genüge thun,
Kants Crit. d. Urtheilskr. G g
II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
dem Urweſen zum Behuf der geſammten Naturerkenntnis, oder einen practiſchen fuͤr die Religion verlangen.
Dieſes aus der phyſiſchen Teleologie genommene Argu- ment iſt verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur Ueberzeugung auf den gemeinen Verſtand, als auf den ſub- tilſten Denker und ein Reimarus in ſeinem noch nicht uͤber- troffenen Werke, worinn er dieſen Beweisgrund mit der ihm eigenen Gruͤndlichkeit und Klarheit weitlaͤuftig ausfuͤhrt, hat ſich dadurch ein unſterbliches Verdienſt erworben — Allein wodurch gewinnt dieſer Beweis ſo gewaltigen Einfluß aufs Gemuͤth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver- nunft (denn die Ruͤhrung und Erhebung deſſelben durch die Wunder der Natur koͤnnte man zur Ueberredung rechnen) auf eine ruhige, ſich gaͤnzlich dahin gebende Beyſtimmung? Es ſind nicht die phyſiſche Zwecke, die alle auf einen uner- gruͤndlichen Verſtand in der Welturſache hindeuten; denn dieſe ſind dazu unzureichend, weil ſie das Beduͤrfnis der fra- genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu ſind (fraͤgt dieſe) alle jene kuͤnſtliche Naturdinge, wozu der Menſch ſelbſt bey dem wir, als dem letzten fuͤr uns denkbaren Zwecke der Natur ſtehen bleiben muͤſſen, wozu iſt dieſe geſammte Natur da und was iſt der Endzweck ſo großer und mannigfaltiger Kunſt? Zum Genießen, oder zum Anſchauen, Betrachten und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts weiter als Genuß von beſonderer Art iſt) als dem letzten End- zweck, warum die Welt und der Menſch ſelbſt da iſt, geſchaf- fen zu ſeyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn dieſe ſetzt einen perſoͤhnlichen Werth, den der Menſch ſich allein geben kann, als Bedingung unter der allein er und ſein Daſeyn Endzweck ſeyn kann, voraus; in Erman- gelung deſſen (der allein eines beſtimmten Begrifs faͤhig iſt) die Zwecke der Natur ſeiner Nachfrage nicht Genuͤge thun,
Kants Crit. d. Urtheilskr. G g
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II. Th. Critik der teleologiſchen Urtheilskraft.
dem Urweſen zum Behuf der geſammten Naturerkenntnis,
oder einen practiſchen fuͤr die Religion verlangen.
Dieſes aus der phyſiſchen Teleologie genommene Argu-
ment iſt verehrungswerth. Es thut gleiche Wirkung zur
Ueberzeugung auf den gemeinen Verſtand, als auf den ſub-
tilſten Denker und ein Reimarus in ſeinem noch nicht uͤber-
troffenen Werke, worinn er dieſen Beweisgrund mit der ihm
eigenen Gruͤndlichkeit und Klarheit weitlaͤuftig ausfuͤhrt, hat
ſich dadurch ein unſterbliches Verdienſt erworben — Allein
wodurch gewinnt dieſer Beweis ſo gewaltigen Einfluß aufs
Gemuͤth, vornehmlich in der Beurtheilung durch kalte Ver-
nunft (denn die Ruͤhrung und Erhebung deſſelben durch die
Wunder der Natur koͤnnte man zur Ueberredung rechnen)
auf eine ruhige, ſich gaͤnzlich dahin gebende Beyſtimmung?
Es ſind nicht die phyſiſche Zwecke, die alle auf einen uner-
gruͤndlichen Verſtand in der Welturſache hindeuten; denn
dieſe ſind dazu unzureichend, weil ſie das Beduͤrfnis der fra-
genden Vernunft nicht befriedigen. Denn wozu ſind (fraͤgt
dieſe) alle jene kuͤnſtliche Naturdinge, wozu der Menſch ſelbſt
bey dem wir, als dem letzten fuͤr uns denkbaren Zwecke der
Natur ſtehen bleiben muͤſſen, wozu iſt dieſe geſammte Natur
da und was iſt der Endzweck ſo großer und mannigfaltiger
Kunſt? Zum Genießen, oder zum Anſchauen, Betrachten
und Bewundern (welches, wenn es dabey bleibt, auch nichts
weiter als Genuß von beſonderer Art iſt) als dem letzten End-
zweck, warum die Welt und der Menſch ſelbſt da iſt, geſchaf-
fen zu ſeyn, kann die Vernunft nicht befriedigen; denn dieſe
ſetzt einen perſoͤhnlichen Werth, den der Menſch ſich
allein geben kann, als Bedingung unter der allein er
und ſein Daſeyn Endzweck ſeyn kann, voraus; in Erman-
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/529>, abgerufen am 04.12.2024.
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