des Talentes, welches alle Welt an ihr rühmte; ihre Bescheidenheit begehrte keinen Ruhm: Brod war das einzige, warum sie ihre Kunst übte; Brod und Ruhe! Sie war für keinen häuslichen Zustand ge- boren, und jetzt, je mehr sie sich ihrem Genie überließ, je drückender wurden ihr die Pflichten einer Haus- frau, Mutter und Magd; denn dies war sie zu- gleich. Ihr Geist wollte keine Fesseln leiden, und ihre Brodsorgen legten ihr täglich schwerere Ket- ten an. Daher stand täglich die Klage auf ihrem Munde und die Thräne in ihrem Auge. Ihre Ge- duld, deren sie viel hatte, so lange ihre Gedanken mit andern Gegenständen beschäftiget waren, weil sie stets in Gedanken war, und auf Nebenumstände wenig verweilte, diese Geduld riß dennoch aus, so bald sie sich zu den Hausgeschäften herablassen soll- te. Je mehr nun ihre Sorgen wuchsen, je mehr nahm ihre Ungeduld zu, der Mann bekam mehr Vorwürfe, und er ging mehr trinken. Bei seiner Nachhausekunft rächte sich sein aufgesparter Zorn, und da geschahen denn Auftritte, die erschrecklich und Jedermann, der davon hörte, ein Gräuel waren. Ihre Haushaltung wurde täglich zerrütteter; sie sah ihren Drangsalen kein Ende, und der Tod gab ihrem Herzen noch die schwerste Wunde, indem er ihr das Kind ihrer Liebe entriß. Sie war an dem Zeitpunkte, wo sie glaubte
des Talentes, welches alle Welt an ihr ruͤhmte; ihre Beſcheidenheit begehrte keinen Ruhm: Brod war das einzige, warum ſie ihre Kunſt uͤbte; Brod und Ruhe! Sie war fuͤr keinen haͤuslichen Zuſtand ge- boren, und jetzt, je mehr ſie ſich ihrem Genie uͤberließ, je druͤckender wurden ihr die Pflichten einer Haus- frau, Mutter und Magd; denn dies war ſie zu- gleich. Ihr Geiſt wollte keine Feſſeln leiden, und ihre Brodſorgen legten ihr taͤglich ſchwerere Ket- ten an. Daher ſtand taͤglich die Klage auf ihrem Munde und die Thraͤne in ihrem Auge. Ihre Ge- duld, deren ſie viel hatte, ſo lange ihre Gedanken mit andern Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget waren, weil ſie ſtets in Gedanken war, und auf Nebenumſtaͤnde wenig verweilte, dieſe Geduld riß dennoch aus, ſo bald ſie ſich zu den Hausgeſchaͤften herablaſſen ſoll- te. Je mehr nun ihre Sorgen wuchſen, je mehr nahm ihre Ungeduld zu, der Mann bekam mehr Vorwuͤrfe, und er ging mehr trinken. Bei ſeiner Nachhauſekunft raͤchte ſich ſein aufgeſparter Zorn, und da geſchahen denn Auftritte, die erſchrecklich und Jedermann, der davon hoͤrte, ein Graͤuel waren. Ihre Haushaltung wurde taͤglich zerruͤtteter; ſie ſah ihren Drangſalen kein Ende, und der Tod gab ihrem Herzen noch die ſchwerſte Wunde, indem er ihr das Kind ihrer Liebe entriß. Sie war an dem Zeitpunkte, wo ſie glaubte
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0111"n="79"/>
des Talentes, welches alle Welt an ihr ruͤhmte; ihre<lb/>
Beſcheidenheit begehrte keinen Ruhm: <hirendition="#g">Brod</hi> war<lb/>
das einzige, warum ſie ihre Kunſt uͤbte; Brod und<lb/>
Ruhe! Sie war fuͤr keinen haͤuslichen Zuſtand ge-<lb/>
boren, und jetzt, je mehr ſie ſich ihrem Genie uͤberließ,<lb/>
je druͤckender wurden ihr die Pflichten einer Haus-<lb/>
frau, Mutter und Magd; denn dies war ſie zu-<lb/>
gleich. Ihr Geiſt wollte keine Feſſeln leiden, und<lb/>
ihre Brodſorgen legten ihr taͤglich ſchwerere Ket-<lb/>
ten an. Daher ſtand taͤglich die Klage auf ihrem<lb/>
Munde und die Thraͤne in ihrem Auge. Ihre Ge-<lb/>
duld, deren ſie viel hatte, ſo lange ihre Gedanken<lb/>
mit andern Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget waren, weil ſie<lb/>ſtets in Gedanken war, und auf Nebenumſtaͤnde<lb/>
wenig verweilte, dieſe Geduld riß dennoch aus, ſo<lb/>
bald ſie ſich zu den Hausgeſchaͤften herablaſſen ſoll-<lb/>
te. Je mehr nun ihre Sorgen wuchſen, je mehr nahm<lb/>
ihre Ungeduld zu, der Mann bekam mehr Vorwuͤrfe,<lb/>
und er ging mehr trinken. Bei ſeiner Nachhauſekunft<lb/>
raͤchte ſich ſein aufgeſparter Zorn, und da geſchahen<lb/>
denn Auftritte, die erſchrecklich und Jedermann, der<lb/>
davon hoͤrte, ein Graͤuel waren. Ihre Haushaltung<lb/>
wurde taͤglich zerruͤtteter; ſie ſah ihren Drangſalen<lb/>
kein Ende, und der Tod gab ihrem Herzen noch die<lb/>ſchwerſte Wunde, indem er ihr das Kind ihrer Liebe<lb/>
entriß. Sie war an dem Zeitpunkte, wo ſie glaubte<lb/></p></div></body></text></TEI>
[79/0111]
des Talentes, welches alle Welt an ihr ruͤhmte; ihre
Beſcheidenheit begehrte keinen Ruhm: Brod war
das einzige, warum ſie ihre Kunſt uͤbte; Brod und
Ruhe! Sie war fuͤr keinen haͤuslichen Zuſtand ge-
boren, und jetzt, je mehr ſie ſich ihrem Genie uͤberließ,
je druͤckender wurden ihr die Pflichten einer Haus-
frau, Mutter und Magd; denn dies war ſie zu-
gleich. Ihr Geiſt wollte keine Feſſeln leiden, und
ihre Brodſorgen legten ihr taͤglich ſchwerere Ket-
ten an. Daher ſtand taͤglich die Klage auf ihrem
Munde und die Thraͤne in ihrem Auge. Ihre Ge-
duld, deren ſie viel hatte, ſo lange ihre Gedanken
mit andern Gegenſtaͤnden beſchaͤftiget waren, weil ſie
ſtets in Gedanken war, und auf Nebenumſtaͤnde
wenig verweilte, dieſe Geduld riß dennoch aus, ſo
bald ſie ſich zu den Hausgeſchaͤften herablaſſen ſoll-
te. Je mehr nun ihre Sorgen wuchſen, je mehr nahm
ihre Ungeduld zu, der Mann bekam mehr Vorwuͤrfe,
und er ging mehr trinken. Bei ſeiner Nachhauſekunft
raͤchte ſich ſein aufgeſparter Zorn, und da geſchahen
denn Auftritte, die erſchrecklich und Jedermann, der
davon hoͤrte, ein Graͤuel waren. Ihre Haushaltung
wurde taͤglich zerruͤtteter; ſie ſah ihren Drangſalen
kein Ende, und der Tod gab ihrem Herzen noch die
ſchwerſte Wunde, indem er ihr das Kind ihrer Liebe
entriß. Sie war an dem Zeitpunkte, wo ſie glaubte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/111>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.