sie wollten, mit ihr sprachen, indem sie zugleich ihrem Schreiben zusahen, in welchem nichts sie hindern konnte, als das einzige, wenn eine Person ihr vorsetz- lich auf die Hand sah.
Ihre Beschäftigungen wurden nun einzig: Schrei- ben und Lesen; sie ging vom Schreibpult in die Ge- sellschaft, um dort wieder zu schreiben und Impromp- tües zu sagen; und von diesen wieder zum Schreiben. Durch die tägliche Uebung, durch die Ruhe und Eh- renvolle Aufmunterung, welche sie hier von allen Sei- ten genoß, setzte sich ihr Geist zu einer männlichen Stärke, und zu einem unermeßlichen Schwung. Sie machte bald die Bekanntschaft des Herrn Professor Kamler, welcher schon damals als deutscher Horaz bekannt wurde. Von ihm lernte sie ihre weitschwei- figen Sylbenmaaße, an welche sie durch ihre ehemali- gen einfältigen Lesereien gewöhnt war, in vier Zeilen einschränken, und ihm den Gang der Ode nachahmen. Mit ihrem reichen Genie, dessen Adel selbst dieser eigensinnige Richter anerkannte, hätte sie in seiner Schule eine Pindarin werden können, wenn ihr Geist die Fesseln der Kunst hätte dulden wollen. Ein vor- gelegter Plan lähmte ihre Schwungkraft; sie konnte es durchaus nicht denken: so willst du anfangen, und so wieder endigen, sondern wie der Zufall ihr einen Gegenstand entgegen führte, so faßte ihr Feuer ihn
ſie wollten, mit ihr ſprachen, indem ſie zugleich ihrem Schreiben zuſahen, in welchem nichts ſie hindern konnte, als das einzige, wenn eine Perſon ihr vorſetz- lich auf die Hand ſah.
Ihre Beſchaͤftigungen wurden nun einzig: Schrei- ben und Leſen; ſie ging vom Schreibpult in die Ge- ſellſchaft, um dort wieder zu ſchreiben und Impromp- tuͤes zu ſagen; und von dieſen wieder zum Schreiben. Durch die taͤgliche Uebung, durch die Ruhe und Eh- renvolle Aufmunterung, welche ſie hier von allen Sei- ten genoß, ſetzte ſich ihr Geiſt zu einer maͤnnlichen Staͤrke, und zu einem unermeßlichen Schwung. Sie machte bald die Bekanntſchaft des Herrn Profeſſor Kamler, welcher ſchon damals als deutſcher Horaz bekannt wurde. Von ihm lernte ſie ihre weitſchwei- figen Sylbenmaaße, an welche ſie durch ihre ehemali- gen einfaͤltigen Leſereien gewoͤhnt war, in vier Zeilen einſchraͤnken, und ihm den Gang der Ode nachahmen. Mit ihrem reichen Genie, deſſen Adel ſelbſt dieſer eigenſinnige Richter anerkannte, haͤtte ſie in ſeiner Schule eine Pindarin werden koͤnnen, wenn ihr Geiſt die Feſſeln der Kunſt haͤtte dulden wollen. Ein vor- gelegter Plan laͤhmte ihre Schwungkraft; ſie konnte es durchaus nicht denken: ſo willſt du anfangen, und ſo wieder endigen, ſondern wie der Zufall ihr einen Gegenſtand entgegen fuͤhrte, ſo faßte ihr Feuer ihn
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ſie wollten, mit ihr ſprachen, indem ſie zugleich ihrem
Schreiben zuſahen, in welchem nichts ſie hindern
konnte, als das einzige, wenn eine Perſon ihr vorſetz-
lich auf die Hand ſah.
Ihre Beſchaͤftigungen wurden nun einzig: Schrei-
ben und Leſen; ſie ging vom Schreibpult in die Ge-
ſellſchaft, um dort wieder zu ſchreiben und Impromp-
tuͤes zu ſagen; und von dieſen wieder zum Schreiben.
Durch die taͤgliche Uebung, durch die Ruhe und Eh-
renvolle Aufmunterung, welche ſie hier von allen Sei-
ten genoß, ſetzte ſich ihr Geiſt zu einer maͤnnlichen
Staͤrke, und zu einem unermeßlichen Schwung. Sie
machte bald die Bekanntſchaft des Herrn Profeſſor
Kamler, welcher ſchon damals als deutſcher Horaz
bekannt wurde. Von ihm lernte ſie ihre weitſchwei-
figen Sylbenmaaße, an welche ſie durch ihre ehemali-
gen einfaͤltigen Leſereien gewoͤhnt war, in vier Zeilen
einſchraͤnken, und ihm den Gang der Ode nachahmen.
Mit ihrem reichen Genie, deſſen Adel ſelbſt dieſer
eigenſinnige Richter anerkannte, haͤtte ſie in ſeiner
Schule eine Pindarin werden koͤnnen, wenn ihr Geiſt
die Feſſeln der Kunſt haͤtte dulden wollen. Ein vor-
gelegter Plan laͤhmte ihre Schwungkraft; ſie konnte
es durchaus nicht denken: ſo willſt du anfangen, und
ſo wieder endigen, ſondern wie der Zufall ihr einen
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/123>, abgerufen am 21.11.2024.
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