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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Sohn ward ihr zurückgeschickt, ohne daß sich jemals
wieder eines Menschen Güte um ihn bekümmert hät-
te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr-
probe, weil er aber seinen Sinn aufs Studieren ge-
setzt hatte, wovon er sich für immer abgerissen sah,
so hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort-
hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus
ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war,
und Fähigkeit und Geschicklichkeit hatte. Auf die
Weise sah er sein Glück für immer verschnitten, und
nahm halb nothgedrungen vor zwölf Jahren eine Schul-
lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu
braven Menschen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern
hat, und von seinen Obern schon mehreremale öffent-
lich in gedruckten Blättern gelobt worden ist. Auch
ihm ist eine baldige Belohnung für seine Amtstreue
zu wünschen.

So das Schicksal des Sohnes; der Tochter ihr
Loos fiel schlimmer. Sie kam nach fünfjähriger, sitt-
licher Aufsicht von der Realschule wieder zur Mutter
nach Hause. Die Mutter, welche niemals mit ihren
Kindern sich Rath gewußt hatte, glaubte nicht besser
thun zu können, als wenn sie ihr Kind ihrem Bruder
in Aufsicht übergäbe. Er, welcher ganz und gar nicht
auf Charakter- und Geistesstimmung sich verstand, be-

Sohn ward ihr zuruͤckgeſchickt, ohne daß ſich jemals
wieder eines Menſchen Guͤte um ihn bekuͤmmert haͤt-
te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr-
probe, weil er aber ſeinen Sinn aufs Studieren ge-
ſetzt hatte, wovon er ſich fuͤr immer abgeriſſen ſah,
ſo hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort-
hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus
ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war,
und Faͤhigkeit und Geſchicklichkeit hatte. Auf die
Weiſe ſah er ſein Gluͤck fuͤr immer verſchnitten, und
nahm halb nothgedrungen vor zwoͤlf Jahren eine Schul-
lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu
braven Menſchen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern
hat, und von ſeinen Obern ſchon mehreremale oͤffent-
lich in gedruckten Blaͤttern gelobt worden iſt. Auch
ihm iſt eine baldige Belohnung fuͤr ſeine Amtstreue
zu wuͤnſchen.

So das Schickſal des Sohnes; der Tochter ihr
Loos fiel ſchlimmer. Sie kam nach fuͤnfjaͤhriger, ſitt-
licher Aufſicht von der Realſchule wieder zur Mutter
nach Hauſe. Die Mutter, welche niemals mit ihren
Kindern ſich Rath gewußt hatte, glaubte nicht beſſer
thun zu koͤnnen, als wenn ſie ihr Kind ihrem Bruder
in Aufſicht uͤbergaͤbe. Er, welcher ganz und gar nicht
auf Charakter- und Geiſtesſtimmung ſich verſtand, be-

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[110/0142] Sohn ward ihr zuruͤckgeſchickt, ohne daß ſich jemals wieder eines Menſchen Guͤte um ihn bekuͤmmert haͤt- te. Sie gab ihn darauf in eine Handlung zur Lehr- probe, weil er aber ſeinen Sinn aufs Studieren ge- ſetzt hatte, wovon er ſich fuͤr immer abgeriſſen ſah, ſo hielt er nirgends aus, wurde bald hieher, bald dort- hin gethan, und zuletzt ward wenig oder nichts aus ihm, ob er gleich immer ordentlich und fleißig war, und Faͤhigkeit und Geſchicklichkeit hatte. Auf die Weiſe ſah er ſein Gluͤck fuͤr immer verſchnitten, und nahm halb nothgedrungen vor zwoͤlf Jahren eine Schul- lehrer-Stelle in Ruppin an, wo er rohe Kinder zu braven Menſchen erzieht und bildet, die Liebe der Eltern hat, und von ſeinen Obern ſchon mehreremale oͤffent- lich in gedruckten Blaͤttern gelobt worden iſt. Auch ihm iſt eine baldige Belohnung fuͤr ſeine Amtstreue zu wuͤnſchen. So das Schickſal des Sohnes; der Tochter ihr Loos fiel ſchlimmer. Sie kam nach fuͤnfjaͤhriger, ſitt- licher Aufſicht von der Realſchule wieder zur Mutter nach Hauſe. Die Mutter, welche niemals mit ihren Kindern ſich Rath gewußt hatte, glaubte nicht beſſer thun zu koͤnnen, als wenn ſie ihr Kind ihrem Bruder in Aufſicht uͤbergaͤbe. Er, welcher ganz und gar nicht auf Charakter- und Geiſtesſtimmung ſich verſtand, be-

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/142>, abgerufen am 24.11.2024.