ihres Charakters, welchen sie ihr ganzes Leben hindurch bis an das Ende ihrer Tage unausgesetzt behauptet hat, läßt sich schließen, daß der Geist dieser außer- ordentlichen Frau römisch, ihr Gefühl griechisch, und ihr Herz deutsch gewesen sei. So schnell und zärtlich sie empfand, so fest hielt sie, selbst ihre Gedanken, un- ter der Herrschaft der Tugend; und ihrem sonst so em- pfänglichen Herzen wurde schon durch eine unziemende Geberde, oder durch ein niedriges Wort bis zum Ab- scheu kalt und ekel. Nichts übertraf die Strenge in ihren Sitten und die Reinigkeit ihrer Handlungen. Selbst gegen sich dachte sie verschämt, und durch einen milden aber ernsthaften Anstand welchen sie sich zu geben wußte, entfernte sie alle unlautere Absichten Anderer, indem sie Allen, mit welchen sie umging, zu- gleich Liebe und Ehrfurcht einflößte. Ihre Söhne sprechen nie ohne Rührung von dem musterhaften Wandel ihrer Mutter und von dem Nachruhm, in welchem noch ihr Andenken bei den Nachkommen des ganzen Städtchens, worin sie wohnte, lebt. Diese charakteristische geistige Vorzüge, welche so selten den ersten Preis erhalten, würden auch vielleicht an dieser Frau nicht glänzen, wenn sie nicht bei ihr von so viel äußern Vorzügen wären unterstüzt und hervor- gehoben worden. Ihre Person war von länglichter schlanker Mittelgröße, und in ihrem Wuchs herrschte
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ihres Charakters, welchen ſie ihr ganzes Leben hindurch bis an das Ende ihrer Tage unausgeſetzt behauptet hat, laͤßt ſich ſchließen, daß der Geiſt dieſer außer- ordentlichen Frau roͤmiſch, ihr Gefuͤhl griechiſch, und ihr Herz deutſch geweſen ſei. So ſchnell und zaͤrtlich ſie empfand, ſo feſt hielt ſie, ſelbſt ihre Gedanken, un- ter der Herrſchaft der Tugend; und ihrem ſonſt ſo em- pfaͤnglichen Herzen wurde ſchon durch eine unziemende Geberde, oder durch ein niedriges Wort bis zum Ab- ſcheu kalt und ekel. Nichts uͤbertraf die Strenge in ihren Sitten und die Reinigkeit ihrer Handlungen. Selbſt gegen ſich dachte ſie verſchaͤmt, und durch einen milden aber ernſthaften Anſtand welchen ſie ſich zu geben wußte, entfernte ſie alle unlautere Abſichten Anderer, indem ſie Allen, mit welchen ſie umging, zu- gleich Liebe und Ehrfurcht einfloͤßte. Ihre Soͤhne ſprechen nie ohne Ruͤhrung von dem muſterhaften Wandel ihrer Mutter und von dem Nachruhm, in welchem noch ihr Andenken bei den Nachkommen des ganzen Staͤdtchens, worin ſie wohnte, lebt. Dieſe charakteriſtiſche geiſtige Vorzuͤge, welche ſo ſelten den erſten Preis erhalten, wuͤrden auch vielleicht an dieſer Frau nicht glaͤnzen, wenn ſie nicht bei ihr von ſo viel aͤußern Vorzuͤgen waͤren unterſtuͤzt und hervor- gehoben worden. Ihre Perſon war von laͤnglichter ſchlanker Mittelgroͤße, und in ihrem Wuchs herrſchte
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ihres Charakters, welchen ſie ihr ganzes Leben hindurch
bis an das Ende ihrer Tage unausgeſetzt behauptet
hat, laͤßt ſich ſchließen, daß der Geiſt dieſer außer-
ordentlichen Frau roͤmiſch, ihr Gefuͤhl griechiſch, und
ihr Herz deutſch geweſen ſei. So ſchnell und zaͤrtlich
ſie empfand, ſo feſt hielt ſie, ſelbſt ihre Gedanken, un-
ter der Herrſchaft der Tugend; und ihrem ſonſt ſo em-
pfaͤnglichen Herzen wurde ſchon durch eine unziemende
Geberde, oder durch ein niedriges Wort bis zum Ab-
ſcheu kalt und ekel. Nichts uͤbertraf die Strenge in
ihren Sitten und die Reinigkeit ihrer Handlungen.
Selbſt gegen ſich dachte ſie verſchaͤmt, und durch einen
milden aber ernſthaften Anſtand welchen ſie ſich zu
geben wußte, entfernte ſie alle unlautere Abſichten
Anderer, indem ſie Allen, mit welchen ſie umging, zu-
gleich Liebe und Ehrfurcht einfloͤßte. Ihre Soͤhne
ſprechen nie ohne Ruͤhrung von dem muſterhaften
Wandel ihrer Mutter und von dem Nachruhm, in
welchem noch ihr Andenken bei den Nachkommen des
ganzen Staͤdtchens, worin ſie wohnte, lebt. Dieſe
charakteriſtiſche geiſtige Vorzuͤge, welche ſo ſelten den
erſten Preis erhalten, wuͤrden auch vielleicht an dieſer
Frau nicht glaͤnzen, wenn ſie nicht bei ihr von
ſo viel aͤußern Vorzuͤgen waͤren unterſtuͤzt und hervor-
gehoben worden. Ihre Perſon war von laͤnglichter
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/37>, abgerufen am 21.11.2024.
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