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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Ihr Gefühl war so fein, daß ihr jene Volkslieder alle
zu gemein waren, und sie pflegte sich oft andere so ge-
nannte Arien nach ihrem bessern Geschmack auszuden-
ken, welche sie aber nicht aufschreiben konnte, weil sie
nicht schreiben gelernt hatte, und also nur in ihrem
Gedächtniß blieben. Auch andre Melodieen pflegte sie
sich oft auf ihre Lieblingslieder auszudenken, und die
schlechteste Weise wurde durch ihre Stimme zur vor-
trefflichsten. Man sollte glauben, daß so viele innere
und äußere Vollkommenheiten, als in ihr vereiniget
waren, ohnmöglich sie im Staube hätten lassen müs-
sen; allein sie war leider sechzig Jahre zu früh gebo-
ren, wo weder Talente gekannt noch gesucht wurden;
und welche auch wegen der einsamen Lage ihres Wohn-
ortes nicht einmal entdeckt werden konnten *).

Ihre Bescheidenheit und Unbefangenheit, ihre
äußerst sittsamen Neigungen ließen ihr auch nicht zu,

*) Ihr jüngster Sohn, welcher ein Tischlermeister ist, hatte
ihre Stimme geerbt, verlor aber dieselbe in seinem 24sten
Jahre durch eine Verkältung: dennoch konnte man in sei-
nem 34sten Jahre noch aus den Ueberbleibseln schließen, was
sie gewesen war. Die Fertigkeit seiner Töne, das Neue,
Säße und das Eigene, welches jederzeit eine Menschen-
stimme von jedem Instrumente auszeichnen sollte, wenn sie
Stimme zu heißen verdiente -- war noch weit im männ-
lichen Alter hin in seinem Gesange, und alle seine Töne, so
künstlich sie zu seyn schienen, gingen ins Herz, weil es Na-
tur war, welche sie ihm in die Kehle gab.

Ihr Gefuͤhl war ſo fein, daß ihr jene Volkslieder alle
zu gemein waren, und ſie pflegte ſich oft andere ſo ge-
nannte Arien nach ihrem beſſern Geſchmack auszuden-
ken, welche ſie aber nicht aufſchreiben konnte, weil ſie
nicht ſchreiben gelernt hatte, und alſo nur in ihrem
Gedaͤchtniß blieben. Auch andre Melodieen pflegte ſie
ſich oft auf ihre Lieblingslieder auszudenken, und die
ſchlechteſte Weiſe wurde durch ihre Stimme zur vor-
trefflichſten. Man ſollte glauben, daß ſo viele innere
und aͤußere Vollkommenheiten, als in ihr vereiniget
waren, ohnmoͤglich ſie im Staube haͤtten laſſen muͤſ-
ſen; allein ſie war leider ſechzig Jahre zu fruͤh gebo-
ren, wo weder Talente gekannt noch geſucht wurden;
und welche auch wegen der einſamen Lage ihres Wohn-
ortes nicht einmal entdeckt werden konnten *).

Ihre Beſcheidenheit und Unbefangenheit, ihre
aͤußerſt ſittſamen Neigungen ließen ihr auch nicht zu,

*) Ihr juͤngſter Sohn, welcher ein Tiſchlermeiſter iſt, hatte
ihre Stimme geerbt, verlor aber dieſelbe in ſeinem 24ſten
Jahre durch eine Verkaͤltung: dennoch konnte man in ſei-
nem 34ſten Jahre noch aus den Ueberbleibſeln ſchließen, was
ſie geweſen war. Die Fertigkeit ſeiner Toͤne, das Neue,
Saͤße und das Eigene, welches jederzeit eine Menſchen-
ſtimme von jedem Inſtrumente auszeichnen ſollte, wenn ſie
Stimme zu heißen verdiente — war noch weit im maͤnn-
lichen Alter hin in ſeinem Geſange, und alle ſeine Toͤne, ſo
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tur war, welche ſie ihm in die Kehle gab.
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[8/0040] Ihr Gefuͤhl war ſo fein, daß ihr jene Volkslieder alle zu gemein waren, und ſie pflegte ſich oft andere ſo ge- nannte Arien nach ihrem beſſern Geſchmack auszuden- ken, welche ſie aber nicht aufſchreiben konnte, weil ſie nicht ſchreiben gelernt hatte, und alſo nur in ihrem Gedaͤchtniß blieben. Auch andre Melodieen pflegte ſie ſich oft auf ihre Lieblingslieder auszudenken, und die ſchlechteſte Weiſe wurde durch ihre Stimme zur vor- trefflichſten. Man ſollte glauben, daß ſo viele innere und aͤußere Vollkommenheiten, als in ihr vereiniget waren, ohnmoͤglich ſie im Staube haͤtten laſſen muͤſ- ſen; allein ſie war leider ſechzig Jahre zu fruͤh gebo- ren, wo weder Talente gekannt noch geſucht wurden; und welche auch wegen der einſamen Lage ihres Wohn- ortes nicht einmal entdeckt werden konnten *). Ihre Beſcheidenheit und Unbefangenheit, ihre aͤußerſt ſittſamen Neigungen ließen ihr auch nicht zu, *) Ihr juͤngſter Sohn, welcher ein Tiſchlermeiſter iſt, hatte ihre Stimme geerbt, verlor aber dieſelbe in ſeinem 24ſten Jahre durch eine Verkaͤltung: dennoch konnte man in ſei- nem 34ſten Jahre noch aus den Ueberbleibſeln ſchließen, was ſie geweſen war. Die Fertigkeit ſeiner Toͤne, das Neue, Saͤße und das Eigene, welches jederzeit eine Menſchen- ſtimme von jedem Inſtrumente auszeichnen ſollte, wenn ſie Stimme zu heißen verdiente — war noch weit im maͤnn- lichen Alter hin in ſeinem Geſange, und alle ſeine Toͤne, ſo kuͤnſtlich ſie zu ſeyn ſchienen, gingen ins Herz, weil es Na- tur war, welche ſie ihm in die Kehle gab.

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/40>, abgerufen am 24.11.2024.