Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.Die göttlichverkannte Phillis im Walde. 1763. Als jüngst der Hirsch voll Liebesflamme Sein Thier verfolgte, das ihn floh, Da stand an einem Birkenstamme Der alte Jäger Sylvio. Ein Greis ist er, und noch verstocken In ihm des Lebens Säfte nicht, Ihm flattern taubenweiße Locken Um rosenfarbnes Angesicht. Betrachtend stand vom Messerschnitte Verwachsen in den starren Baum: Da rauschten meiner Phillis Tritte Vorbei und ihres Kleides Saum. Zurück fuhr Sylvio der Alte, Ihr Götter! rief er, ja sie rauscht An mir vorbei, die wohlgestalte Diana, die das Wild belauscht. Die goͤttlichverkannte Phillis im Walde. 1763. Als juͤngſt der Hirſch voll Liebesflamme Sein Thier verfolgte, das ihn floh, Da ſtand an einem Birkenſtamme Der alte Jaͤger Sylvio. Ein Greis iſt er, und noch verſtocken In ihm des Lebens Saͤfte nicht, Ihm flattern taubenweiße Locken Um roſenfarbnes Angeſicht. Betrachtend ſtand vom Meſſerſchnitte Verwachſen in den ſtarren Baum: Da rauſchten meiner Phillis Tritte Vorbei und ihres Kleides Saum. Zuruͤck fuhr Sylvio der Alte, Ihr Goͤtter! rief er, ja ſie rauſcht An mir vorbei, die wohlgeſtalte Diana, die das Wild belauſcht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0412" n="252"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#g">Die</hi><lb/> <hi rendition="#b">goͤttlichverkannte Phillis im Walde.</hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <dateline> <hi rendition="#c">1763.</hi> </dateline><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l><hi rendition="#in">A</hi>ls juͤngſt der Hirſch voll Liebesflamme</l><lb/> <l>Sein Thier verfolgte, das ihn floh,</l><lb/> <l>Da ſtand an einem Birkenſtamme</l><lb/> <l>Der alte Jaͤger Sylvio.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Ein Greis iſt er, und noch verſtocken</l><lb/> <l>In ihm des Lebens Saͤfte nicht,</l><lb/> <l>Ihm flattern taubenweiße Locken</l><lb/> <l>Um roſenfarbnes Angeſicht.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Betrachtend ſtand vom Meſſerſchnitte</l><lb/> <l>Verwachſen in den ſtarren Baum:</l><lb/> <l>Da rauſchten meiner Phillis Tritte</l><lb/> <l>Vorbei und ihres Kleides Saum.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Zuruͤck fuhr Sylvio der Alte,</l><lb/> <l>Ihr Goͤtter! rief er, ja ſie rauſcht</l><lb/> <l>An mir vorbei, die wohlgeſtalte</l><lb/> <l><hi rendition="#g">Diana</hi>, die das Wild belauſcht.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [252/0412]
Die
goͤttlichverkannte Phillis im Walde.
1763.
Als juͤngſt der Hirſch voll Liebesflamme
Sein Thier verfolgte, das ihn floh,
Da ſtand an einem Birkenſtamme
Der alte Jaͤger Sylvio.
Ein Greis iſt er, und noch verſtocken
In ihm des Lebens Saͤfte nicht,
Ihm flattern taubenweiße Locken
Um roſenfarbnes Angeſicht.
Betrachtend ſtand vom Meſſerſchnitte
Verwachſen in den ſtarren Baum:
Da rauſchten meiner Phillis Tritte
Vorbei und ihres Kleides Saum.
Zuruͤck fuhr Sylvio der Alte,
Ihr Goͤtter! rief er, ja ſie rauſcht
An mir vorbei, die wohlgeſtalte
Diana, die das Wild belauſcht.
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