Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

oft erzählt, daß sie in ihrem ganzen Leben nicht mehr
als anderthalb Strümpfe geknittet hat.

Ihr Vetter wußte ihr nun ferner nichts zu thun
zu geben; sein Vorrath von deutschen Büchern war
klein, seine meiste Bibliothek bestand in lateinischen
und andern Sprachen. Er wußte also seine wißbe-
gierige Nichte mit keinem Unterrichte mehr zu be-
schäftigen, und doch plagte sie ihn, um etwas zu ler-
nen. Er fing also beynahe Scherzweise an, sie in der
lateinischen Sprache zu unterweisen. Er lehrte ihr
lesen, und gab ihr nachher Vocabeln auf. In Zeit
von vierzehn Tagen konnte sie ihm viele hundert latei-
nische Wörter aus dem Gedächtnisse hersagen, und er
ging schon so weit, durch Zusammensetzung solcher
Wörter ihr einen Autor verstehen zu lernen. Aber
welcher Gräuel war das vor den Ohren der Großmut-
ter! Ihre Geduld riß dabei ganz aus. Weil aber
ihre Widersprüche stets fruchtlos geblieben waren, so
sahe sie keinen andern Ausweg, als daß sie heimlich
ihrer Tochter einen Wink gab und ihr sagen ließ: daß
wenn sie ihr Kind lieb hätte, so sollte sie es von ihrem
Bruder wegnehmen; denn der ginge gerade darauf
aus, das Mädchen verrückt zu machen, indem er ihr
nun gar Lateinisch lehrte. Die Mutter der kleinen
Dürbach, welche in der Zeit sich zum zweitenmale ver-
heirathet hatte, und jezt in den Umständen war, daß

b 2

oft erzaͤhlt, daß ſie in ihrem ganzen Leben nicht mehr
als anderthalb Struͤmpfe geknittet hat.

Ihr Vetter wußte ihr nun ferner nichts zu thun
zu geben; ſein Vorrath von deutſchen Buͤchern war
klein, ſeine meiſte Bibliothek beſtand in lateiniſchen
und andern Sprachen. Er wußte alſo ſeine wißbe-
gierige Nichte mit keinem Unterrichte mehr zu be-
ſchaͤftigen, und doch plagte ſie ihn, um etwas zu ler-
nen. Er fing alſo beynahe Scherzweiſe an, ſie in der
lateiniſchen Sprache zu unterweiſen. Er lehrte ihr
leſen, und gab ihr nachher Vocabeln auf. In Zeit
von vierzehn Tagen konnte ſie ihm viele hundert latei-
niſche Woͤrter aus dem Gedaͤchtniſſe herſagen, und er
ging ſchon ſo weit, durch Zuſammenſetzung ſolcher
Woͤrter ihr einen Autor verſtehen zu lernen. Aber
welcher Graͤuel war das vor den Ohren der Großmut-
ter! Ihre Geduld riß dabei ganz aus. Weil aber
ihre Widerſpruͤche ſtets fruchtlos geblieben waren, ſo
ſahe ſie keinen andern Ausweg, als daß ſie heimlich
ihrer Tochter einen Wink gab und ihr ſagen ließ: daß
wenn ſie ihr Kind lieb haͤtte, ſo ſollte ſie es von ihrem
Bruder wegnehmen; denn der ginge gerade darauf
aus, das Maͤdchen verruͤckt zu machen, indem er ihr
nun gar Lateiniſch lehrte. Die Mutter der kleinen
Duͤrbach, welche in der Zeit ſich zum zweitenmale ver-
heirathet hatte, und jezt in den Umſtaͤnden war, daß

b 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="19"/>
oft erza&#x0364;hlt, daß &#x017F;ie in ihrem ganzen Leben nicht mehr<lb/>
als anderthalb Stru&#x0364;mpfe geknittet hat.</p><lb/>
        <p>Ihr Vetter wußte ihr nun ferner nichts zu thun<lb/>
zu geben; &#x017F;ein Vorrath von deut&#x017F;chen Bu&#x0364;chern war<lb/>
klein, &#x017F;eine mei&#x017F;te Bibliothek be&#x017F;tand in lateini&#x017F;chen<lb/>
und andern Sprachen. Er wußte al&#x017F;o &#x017F;eine wißbe-<lb/>
gierige Nichte mit keinem Unterrichte mehr zu be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ftigen, und doch plagte &#x017F;ie ihn, um etwas zu ler-<lb/>
nen. Er fing al&#x017F;o beynahe Scherzwei&#x017F;e an, &#x017F;ie in der<lb/>
lateini&#x017F;chen Sprache zu unterwei&#x017F;en. Er lehrte ihr<lb/>
le&#x017F;en, und gab ihr nachher Vocabeln auf. In Zeit<lb/>
von vierzehn Tagen konnte &#x017F;ie ihm viele hundert latei-<lb/>
ni&#x017F;che Wo&#x0364;rter aus dem Geda&#x0364;chtni&#x017F;&#x017F;e her&#x017F;agen, und er<lb/>
ging &#x017F;chon &#x017F;o weit, durch Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung &#x017F;olcher<lb/>
Wo&#x0364;rter ihr einen Autor ver&#x017F;tehen zu lernen. Aber<lb/>
welcher Gra&#x0364;uel war das vor den Ohren der Großmut-<lb/>
ter! Ihre Geduld riß dabei ganz aus. Weil aber<lb/>
ihre Wider&#x017F;pru&#x0364;che &#x017F;tets fruchtlos geblieben waren, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ahe &#x017F;ie keinen andern Ausweg, als daß &#x017F;ie heimlich<lb/>
ihrer Tochter einen Wink gab und ihr &#x017F;agen ließ: daß<lb/>
wenn &#x017F;ie ihr Kind lieb ha&#x0364;tte, &#x017F;o &#x017F;ollte &#x017F;ie es von ihrem<lb/>
Bruder wegnehmen; denn der ginge gerade darauf<lb/>
aus, das Ma&#x0364;dchen verru&#x0364;ckt zu machen, indem er ihr<lb/>
nun gar Lateini&#x017F;ch lehrte. Die Mutter der kleinen<lb/>
Du&#x0364;rbach, welche in der Zeit &#x017F;ich zum zweitenmale ver-<lb/>
heirathet hatte, und jezt in den Um&#x017F;ta&#x0364;nden war, daß<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">b 2</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0051] oft erzaͤhlt, daß ſie in ihrem ganzen Leben nicht mehr als anderthalb Struͤmpfe geknittet hat. Ihr Vetter wußte ihr nun ferner nichts zu thun zu geben; ſein Vorrath von deutſchen Buͤchern war klein, ſeine meiſte Bibliothek beſtand in lateiniſchen und andern Sprachen. Er wußte alſo ſeine wißbe- gierige Nichte mit keinem Unterrichte mehr zu be- ſchaͤftigen, und doch plagte ſie ihn, um etwas zu ler- nen. Er fing alſo beynahe Scherzweiſe an, ſie in der lateiniſchen Sprache zu unterweiſen. Er lehrte ihr leſen, und gab ihr nachher Vocabeln auf. In Zeit von vierzehn Tagen konnte ſie ihm viele hundert latei- niſche Woͤrter aus dem Gedaͤchtniſſe herſagen, und er ging ſchon ſo weit, durch Zuſammenſetzung ſolcher Woͤrter ihr einen Autor verſtehen zu lernen. Aber welcher Graͤuel war das vor den Ohren der Großmut- ter! Ihre Geduld riß dabei ganz aus. Weil aber ihre Widerſpruͤche ſtets fruchtlos geblieben waren, ſo ſahe ſie keinen andern Ausweg, als daß ſie heimlich ihrer Tochter einen Wink gab und ihr ſagen ließ: daß wenn ſie ihr Kind lieb haͤtte, ſo ſollte ſie es von ihrem Bruder wegnehmen; denn der ginge gerade darauf aus, das Maͤdchen verruͤckt zu machen, indem er ihr nun gar Lateiniſch lehrte. Die Mutter der kleinen Duͤrbach, welche in der Zeit ſich zum zweitenmale ver- heirathet hatte, und jezt in den Umſtaͤnden war, daß b 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/51
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/51>, abgerufen am 21.11.2024.