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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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lernte, so ward sie über die Verstoßung der Sitte ih-
rer mütterlichen Vorfahren ganz entrüstet. Sie schob
die Sünde ihrem Bruder in sein Gewissen, und sagte:
Er würde es einmal zu verantworten haben, wenn
das Mädchen durch ihr Lesen und Schreiben allerley
Müßiggang und Untugend lernte. "Daß dich der
Kranksch derschlüge! rief sie oft in ihrem gutmüthigen
Eifer, das Mädel soll mir durchaus nicht schreiben
lernen; durchaus nicht! ein Mädel muß nicht schrei-
ben können, sie hat anders zu thun, wenn sie ne Frau
wird, als Schreiben. Das verführt sie nur zu Lie-
besbriefen, zu weiter nichts Guts. Sie soll durchaus
nicht schreiben lernen."

Allein, je mehr die Großmutter eiferte, je hefti-
ger wurde die Begierde der Kleinen, schreiben zu kön-
nen. Sobald sie die Buchstaben nachmahlen konnte,
blieb kein leerer Raum mehr sicher vor ihrer Kreide,
sie beschrieb jeden Klotz, jedes Stückchen Brett, wel-
ches sie auffinden konnte. Ihr lieber Oheim fing nun
das Rechnen mit ihr an, und auch hierin nahm sie
die schnellsten Fortschritte. Eben so leicht würde sie
weibliche Handarbeit begriffen haben, wenn zu einem
Unterrichte Gelegenheit gewesen wäre. Stricken
lehrte ihr die Großmutter; aber dabey hatte sie keine
Geduld, weil es ein ewiges Einerley war. Sie hat

lernte, ſo ward ſie uͤber die Verſtoßung der Sitte ih-
rer muͤtterlichen Vorfahren ganz entruͤſtet. Sie ſchob
die Suͤnde ihrem Bruder in ſein Gewiſſen, und ſagte:
Er wuͤrde es einmal zu verantworten haben, wenn
das Maͤdchen durch ihr Leſen und Schreiben allerley
Muͤßiggang und Untugend lernte. „Daß dich der
Krankſch derſchluͤge! rief ſie oft in ihrem gutmuͤthigen
Eifer, das Maͤdel ſoll mir durchaus nicht ſchreiben
lernen; durchaus nicht! ein Maͤdel muß nicht ſchrei-
ben koͤnnen, ſie hat anders zu thun, wenn ſie ne Frau
wird, als Schreiben. Das verfuͤhrt ſie nur zu Lie-
besbriefen, zu weiter nichts Guts. Sie ſoll durchaus
nicht ſchreiben lernen.“

Allein, je mehr die Großmutter eiferte, je hefti-
ger wurde die Begierde der Kleinen, ſchreiben zu koͤn-
nen. Sobald ſie die Buchſtaben nachmahlen konnte,
blieb kein leerer Raum mehr ſicher vor ihrer Kreide,
ſie beſchrieb jeden Klotz, jedes Stuͤckchen Brett, wel-
ches ſie auffinden konnte. Ihr lieber Oheim fing nun
das Rechnen mit ihr an, und auch hierin nahm ſie
die ſchnellſten Fortſchritte. Eben ſo leicht wuͤrde ſie
weibliche Handarbeit begriffen haben, wenn zu einem
Unterrichte Gelegenheit geweſen waͤre. Stricken
lehrte ihr die Großmutter; aber dabey hatte ſie keine
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[18/0050] lernte, ſo ward ſie uͤber die Verſtoßung der Sitte ih- rer muͤtterlichen Vorfahren ganz entruͤſtet. Sie ſchob die Suͤnde ihrem Bruder in ſein Gewiſſen, und ſagte: Er wuͤrde es einmal zu verantworten haben, wenn das Maͤdchen durch ihr Leſen und Schreiben allerley Muͤßiggang und Untugend lernte. „Daß dich der Krankſch derſchluͤge! rief ſie oft in ihrem gutmuͤthigen Eifer, das Maͤdel ſoll mir durchaus nicht ſchreiben lernen; durchaus nicht! ein Maͤdel muß nicht ſchrei- ben koͤnnen, ſie hat anders zu thun, wenn ſie ne Frau wird, als Schreiben. Das verfuͤhrt ſie nur zu Lie- besbriefen, zu weiter nichts Guts. Sie ſoll durchaus nicht ſchreiben lernen.“ Allein, je mehr die Großmutter eiferte, je hefti- ger wurde die Begierde der Kleinen, ſchreiben zu koͤn- nen. Sobald ſie die Buchſtaben nachmahlen konnte, blieb kein leerer Raum mehr ſicher vor ihrer Kreide, ſie beſchrieb jeden Klotz, jedes Stuͤckchen Brett, wel- ches ſie auffinden konnte. Ihr lieber Oheim fing nun das Rechnen mit ihr an, und auch hierin nahm ſie die ſchnellſten Fortſchritte. Eben ſo leicht wuͤrde ſie weibliche Handarbeit begriffen haben, wenn zu einem Unterrichte Gelegenheit geweſen waͤre. Stricken lehrte ihr die Großmutter; aber dabey hatte ſie keine Geduld, weil es ein ewiges Einerley war. Sie hat

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/50>, abgerufen am 21.11.2024.