genossen und die Bücher unsrer Tage gehabt, so würde sie kaum ihr Talent zn der Höhe geschwungen haben, in welcher es allgemein bekannt ist. Ein wirkliches Genie kann wol nicht dadurch leiden, wenn es lange sich nur selbst überlassen ist; denn die Kunst, welche ihm zu früh die erhabensten Muster vorlegt, macht es dadurch scheu und zaghaft, selbst den Flug zu wagen. Daher wird ein früh ausgebildetes Talent sich selten zu dem kühnen Schwung erheben, welchen die wilde freie Kraft eines sich selbst überlassenen Genies mit Leich- tigkeit ausführt, weil es die ihm unbekannten Regeln der Kunst nicht zu scheuen hat, ob es gleich auch Ge- fahr läuft, im Wälzen seines Strohms hie und da eine Regel umzustoßen, oder etwas mit sich fortzureißen, welches es nicht wieder an die rechte Stelle bringt.
Nachdem der dritte Sommer dieser glücklichen Epoche vor sie vorüber war, bedachte nun ihre Mut- ter, daß das Mädchen sich dem Ende ihres funfzehn- ten Jahres näherte, und noch war sie von aller häus- lichen Kenntniß zurück, welche ihrer künftigen Bestim- mung zur Hausfrau so nothwendig war. Nach der dortigen Sitte pflegte man die Mädchens zu verheyra- then, sobald sie erwachsen waren, und die Augen der jungen Dürbach sagten, daß sie wider diese Gewohn- heit nichts einzuwenden haben würde. Es ward also beschlossen, sie zuerst noch im Nähen unterrichten zu
genoſſen und die Buͤcher unſrer Tage gehabt, ſo wuͤrde ſie kaum ihr Talent zn der Hoͤhe geſchwungen haben, in welcher es allgemein bekannt iſt. Ein wirkliches Genie kann wol nicht dadurch leiden, wenn es lange ſich nur ſelbſt uͤberlaſſen iſt; denn die Kunſt, welche ihm zu fruͤh die erhabenſten Muſter vorlegt, macht es dadurch ſcheu und zaghaft, ſelbſt den Flug zu wagen. Daher wird ein fruͤh ausgebildetes Talent ſich ſelten zu dem kuͤhnen Schwung erheben, welchen die wilde freie Kraft eines ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Genies mit Leich- tigkeit ausfuͤhrt, weil es die ihm unbekannten Regeln der Kunſt nicht zu ſcheuen hat, ob es gleich auch Ge- fahr laͤuft, im Waͤlzen ſeines Strohms hie und da eine Regel umzuſtoßen, oder etwas mit ſich fortzureißen, welches es nicht wieder an die rechte Stelle bringt.
Nachdem der dritte Sommer dieſer gluͤcklichen Epoche vor ſie voruͤber war, bedachte nun ihre Mut- ter, daß das Maͤdchen ſich dem Ende ihres funfzehn- ten Jahres naͤherte, und noch war ſie von aller haͤus- lichen Kenntniß zuruͤck, welche ihrer kuͤnftigen Beſtim- mung zur Hausfrau ſo nothwendig war. Nach der dortigen Sitte pflegte man die Maͤdchens zu verheyra- then, ſobald ſie erwachſen waren, und die Augen der jungen Duͤrbach ſagten, daß ſie wider dieſe Gewohn- heit nichts einzuwenden haben wuͤrde. Es ward alſo beſchloſſen, ſie zuerſt noch im Naͤhen unterrichten zu
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0061"n="29"/>
genoſſen und die Buͤcher unſrer Tage gehabt, ſo wuͤrde<lb/>ſie kaum ihr Talent zn der Hoͤhe geſchwungen haben,<lb/>
in welcher es allgemein bekannt iſt. Ein wirkliches<lb/>
Genie kann wol nicht dadurch leiden, wenn es lange<lb/>ſich nur ſelbſt uͤberlaſſen iſt; denn die Kunſt, welche<lb/>
ihm zu fruͤh die erhabenſten Muſter vorlegt, macht es<lb/>
dadurch ſcheu und zaghaft, ſelbſt den Flug zu wagen.<lb/>
Daher wird ein fruͤh ausgebildetes Talent ſich ſelten zu<lb/>
dem kuͤhnen Schwung erheben, welchen die wilde freie<lb/>
Kraft eines ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Genies mit Leich-<lb/>
tigkeit ausfuͤhrt, weil es die ihm unbekannten Regeln<lb/>
der Kunſt nicht zu ſcheuen hat, ob es gleich auch Ge-<lb/>
fahr laͤuft, im Waͤlzen ſeines Strohms hie und da<lb/>
eine Regel umzuſtoßen, oder etwas mit ſich fortzureißen,<lb/>
welches es nicht wieder an die rechte Stelle bringt.</p><lb/><p>Nachdem der dritte Sommer dieſer gluͤcklichen<lb/>
Epoche vor ſie voruͤber war, bedachte nun ihre Mut-<lb/>
ter, daß das Maͤdchen ſich dem Ende ihres funfzehn-<lb/>
ten Jahres naͤherte, und noch war ſie von aller haͤus-<lb/>
lichen Kenntniß zuruͤck, welche ihrer kuͤnftigen Beſtim-<lb/>
mung zur Hausfrau ſo nothwendig war. Nach der<lb/>
dortigen Sitte pflegte man die Maͤdchens zu verheyra-<lb/>
then, ſobald ſie erwachſen waren, und die Augen der<lb/>
jungen Duͤrbach ſagten, daß ſie wider dieſe Gewohn-<lb/>
heit nichts einzuwenden haben wuͤrde. Es ward alſo<lb/>
beſchloſſen, ſie zuerſt noch im Naͤhen unterrichten zu<lb/></p></div></body></text></TEI>
[29/0061]
genoſſen und die Buͤcher unſrer Tage gehabt, ſo wuͤrde
ſie kaum ihr Talent zn der Hoͤhe geſchwungen haben,
in welcher es allgemein bekannt iſt. Ein wirkliches
Genie kann wol nicht dadurch leiden, wenn es lange
ſich nur ſelbſt uͤberlaſſen iſt; denn die Kunſt, welche
ihm zu fruͤh die erhabenſten Muſter vorlegt, macht es
dadurch ſcheu und zaghaft, ſelbſt den Flug zu wagen.
Daher wird ein fruͤh ausgebildetes Talent ſich ſelten zu
dem kuͤhnen Schwung erheben, welchen die wilde freie
Kraft eines ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Genies mit Leich-
tigkeit ausfuͤhrt, weil es die ihm unbekannten Regeln
der Kunſt nicht zu ſcheuen hat, ob es gleich auch Ge-
fahr laͤuft, im Waͤlzen ſeines Strohms hie und da
eine Regel umzuſtoßen, oder etwas mit ſich fortzureißen,
welches es nicht wieder an die rechte Stelle bringt.
Nachdem der dritte Sommer dieſer gluͤcklichen
Epoche vor ſie voruͤber war, bedachte nun ihre Mut-
ter, daß das Maͤdchen ſich dem Ende ihres funfzehn-
ten Jahres naͤherte, und noch war ſie von aller haͤus-
lichen Kenntniß zuruͤck, welche ihrer kuͤnftigen Beſtim-
mung zur Hausfrau ſo nothwendig war. Nach der
dortigen Sitte pflegte man die Maͤdchens zu verheyra-
then, ſobald ſie erwachſen waren, und die Augen der
jungen Duͤrbach ſagten, daß ſie wider dieſe Gewohn-
heit nichts einzuwenden haben wuͤrde. Es ward alſo
beſchloſſen, ſie zuerſt noch im Naͤhen unterrichten zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/61>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.