welche er mit äußerster Mühe habhaft zu werden such- te. Zwar bekam ihr Geist keine Schwingen durch diese Lektüre, in welcher oft ein gesunder Gedanke in einem Strohm von ermüdendem Witze und fremden Sprachwörtern ersäuft lag; allein ihre Empfindungen gewonnen doch dadurch mehr Spielraum, und ihre Ideen verfeinerten sich durch das Lesen, und durch den freundschaftlichen Umgang ihres tugendhaften Hirten- knaben. Vielleicht wurden die drei Sommer ihres Hirtenstandes die Quelle, welche ihre Dichterader so weit ausdehnte und so stark anfüllte; denn hier be- gnügte sich ihre Wißbegierde nicht nur an den Büchern, sondern machte sie auch mit den Gegenständen der Natur bekannt. Sie lernte die mannichfaltigen Arten der Vögel und der ländlichen Insekten kennen; sie er- forschte den Unterschied der Baumarten, der Pflanzen und Blumen, und in ihrem unvergleichlichen Gedächt- nisse fand das vergessenste Kräutchen seinen Namen wieder. Auf gleiche Weise wurden ihr die Verände- rungen der Jahreszeiten, so wie der Elemente bekannt, und der gestirnte Himmel mit ihrem Geiste vertraut. Daher sammlete sie alle die schönen Farben zu den herrlichen Bildern der Natur, welche ihren Meister- stücken einen Vorzug geben, den sie vielleicht in ihrer Art einzig hat. Hätte statt dieses Hirtenlebens die Dichterin das Glück einer gekünstelten Erziehung
welche er mit aͤußerſter Muͤhe habhaft zu werden ſuch- te. Zwar bekam ihr Geiſt keine Schwingen durch dieſe Lektuͤre, in welcher oft ein geſunder Gedanke in einem Strohm von ermuͤdendem Witze und fremden Sprachwoͤrtern erſaͤuft lag; allein ihre Empfindungen gewonnen doch dadurch mehr Spielraum, und ihre Ideen verfeinerten ſich durch das Leſen, und durch den freundſchaftlichen Umgang ihres tugendhaften Hirten- knaben. Vielleicht wurden die drei Sommer ihres Hirtenſtandes die Quelle, welche ihre Dichterader ſo weit ausdehnte und ſo ſtark anfuͤllte; denn hier be- gnuͤgte ſich ihre Wißbegierde nicht nur an den Buͤchern, ſondern machte ſie auch mit den Gegenſtaͤnden der Natur bekannt. Sie lernte die mannichfaltigen Arten der Voͤgel und der laͤndlichen Inſekten kennen; ſie er- forſchte den Unterſchied der Baumarten, der Pflanzen und Blumen, und in ihrem unvergleichlichen Gedaͤcht- niſſe fand das vergeſſenſte Kraͤutchen ſeinen Namen wieder. Auf gleiche Weiſe wurden ihr die Veraͤnde- rungen der Jahreszeiten, ſo wie der Elemente bekannt, und der geſtirnte Himmel mit ihrem Geiſte vertraut. Daher ſammlete ſie alle die ſchoͤnen Farben zu den herrlichen Bildern der Natur, welche ihren Meiſter- ſtuͤcken einen Vorzug geben, den ſie vielleicht in ihrer Art einzig hat. Haͤtte ſtatt dieſes Hirtenlebens die Dichterin das Gluͤck einer gekuͤnſtelten Erziehung
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welche er mit aͤußerſter Muͤhe habhaft zu werden ſuch-
te. Zwar bekam ihr Geiſt keine Schwingen durch
dieſe Lektuͤre, in welcher oft ein geſunder Gedanke in
einem Strohm von ermuͤdendem Witze und fremden
Sprachwoͤrtern erſaͤuft lag; allein ihre Empfindungen
gewonnen doch dadurch mehr Spielraum, und ihre
Ideen verfeinerten ſich durch das Leſen, und durch den
freundſchaftlichen Umgang ihres tugendhaften Hirten-
knaben. Vielleicht wurden die drei Sommer ihres
Hirtenſtandes die Quelle, welche ihre Dichterader ſo
weit ausdehnte und ſo ſtark anfuͤllte; denn hier be-
gnuͤgte ſich ihre Wißbegierde nicht nur an den Buͤchern,
ſondern machte ſie auch mit den Gegenſtaͤnden der
Natur bekannt. Sie lernte die mannichfaltigen Arten
der Voͤgel und der laͤndlichen Inſekten kennen; ſie er-
forſchte den Unterſchied der Baumarten, der Pflanzen
und Blumen, und in ihrem unvergleichlichen Gedaͤcht-
niſſe fand das vergeſſenſte Kraͤutchen ſeinen Namen
wieder. Auf gleiche Weiſe wurden ihr die Veraͤnde-
rungen der Jahreszeiten, ſo wie der Elemente bekannt,
und der geſtirnte Himmel mit ihrem Geiſte vertraut.
Daher ſammlete ſie alle die ſchoͤnen Farben zu den
herrlichen Bildern der Natur, welche ihren Meiſter-
ſtuͤcken einen Vorzug geben, den ſie vielleicht in ihrer
Art einzig hat. Haͤtte ſtatt dieſes Hirtenlebens die
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/60>, abgerufen am 21.11.2024.
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