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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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und die große Jugend, in welcher beide Theile fast
immer verheirathet werden, kann wol nichts anders
als üble Folgen nach sich ziehn, weil sie bei reiferm Ver-
stande erst einsehen, wie sie mehrentheils in ihrer
Wahl gefehlt haben.

Ein solches Schicksal wartete auch unserer Dichte-
rin; weil ihr Bräutigam meilenweit entfernt wohnte,
so konnte sie weder ihn, noch er sie besser kennen ler-
nen, ob sie sich zur Ehe für einander schickten. Der
Mutter zwar wurde es gesagt, daß er ein geiziger und
jachzorniger Mann wäre; allein sie, welche glaubte,
daß man wol für die Tugend etwas leiden könnte,
hörte weiter nicht auf solche Reden, sondern antwor-
tete: "Wenn der Mann schlimm wäre, so müßte die
Frau desto nachgebender seyn, denn ginge es immer
gut. Sie wüßte, daß ihre Tochter ein nachgebendes
Gemüth hätte, also mache sie sich weiter keinen Kum-
mer, als dieselbe an einen ordentlichen Mann zu brin-
gen, und das wäre ihr künftiger Schwiegersohn."
Dergestalt ging denn die Hochzeit vor sich.

Die Braut war ein schlankes, noch nicht voll sech-
zehnjähriges Mädchen mit blühendem Gesicht, ländlich-
freundlichen Mienen und feuervollen blauen Augen.
Ihre unbeschreiblich schöne Stirn trug keine gepuderte
Locken, sondern ihr stark kastanienbraunes Haar war
nach Art der Köpfe französischer Schweizermädchen,

und die große Jugend, in welcher beide Theile faſt
immer verheirathet werden, kann wol nichts anders
als uͤble Folgen nach ſich ziehn, weil ſie bei reiferm Ver-
ſtande erſt einſehen, wie ſie mehrentheils in ihrer
Wahl gefehlt haben.

Ein ſolches Schickſal wartete auch unſerer Dichte-
rin; weil ihr Braͤutigam meilenweit entfernt wohnte,
ſo konnte ſie weder ihn, noch er ſie beſſer kennen ler-
nen, ob ſie ſich zur Ehe fuͤr einander ſchickten. Der
Mutter zwar wurde es geſagt, daß er ein geiziger und
jachzorniger Mann waͤre; allein ſie, welche glaubte,
daß man wol fuͤr die Tugend etwas leiden koͤnnte,
hoͤrte weiter nicht auf ſolche Reden, ſondern antwor-
tete: „Wenn der Mann ſchlimm waͤre, ſo muͤßte die
Frau deſto nachgebender ſeyn, denn ginge es immer
gut. Sie wuͤßte, daß ihre Tochter ein nachgebendes
Gemuͤth haͤtte, alſo mache ſie ſich weiter keinen Kum-
mer, als dieſelbe an einen ordentlichen Mann zu brin-
gen, und das waͤre ihr kuͤnftiger Schwiegerſohn.„
Dergeſtalt ging denn die Hochzeit vor ſich.

Die Braut war ein ſchlankes, noch nicht voll ſech-
zehnjaͤhriges Maͤdchen mit bluͤhendem Geſicht, laͤndlich-
freundlichen Mienen und feuervollen blauen Augen.
Ihre unbeſchreiblich ſchoͤne Stirn trug keine gepuderte
Locken, ſondern ihr ſtark kaſtanienbraunes Haar war
nach Art der Koͤpfe franzoͤſiſcher Schweizermaͤdchen,

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[40/0072] und die große Jugend, in welcher beide Theile faſt immer verheirathet werden, kann wol nichts anders als uͤble Folgen nach ſich ziehn, weil ſie bei reiferm Ver- ſtande erſt einſehen, wie ſie mehrentheils in ihrer Wahl gefehlt haben. Ein ſolches Schickſal wartete auch unſerer Dichte- rin; weil ihr Braͤutigam meilenweit entfernt wohnte, ſo konnte ſie weder ihn, noch er ſie beſſer kennen ler- nen, ob ſie ſich zur Ehe fuͤr einander ſchickten. Der Mutter zwar wurde es geſagt, daß er ein geiziger und jachzorniger Mann waͤre; allein ſie, welche glaubte, daß man wol fuͤr die Tugend etwas leiden koͤnnte, hoͤrte weiter nicht auf ſolche Reden, ſondern antwor- tete: „Wenn der Mann ſchlimm waͤre, ſo muͤßte die Frau deſto nachgebender ſeyn, denn ginge es immer gut. Sie wuͤßte, daß ihre Tochter ein nachgebendes Gemuͤth haͤtte, alſo mache ſie ſich weiter keinen Kum- mer, als dieſelbe an einen ordentlichen Mann zu brin- gen, und das waͤre ihr kuͤnftiger Schwiegerſohn.„ Dergeſtalt ging denn die Hochzeit vor ſich. Die Braut war ein ſchlankes, noch nicht voll ſech- zehnjaͤhriges Maͤdchen mit bluͤhendem Geſicht, laͤndlich- freundlichen Mienen und feuervollen blauen Augen. Ihre unbeſchreiblich ſchoͤne Stirn trug keine gepuderte Locken, ſondern ihr ſtark kaſtanienbraunes Haar war nach Art der Koͤpfe franzoͤſiſcher Schweizermaͤdchen,

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/72>, abgerufen am 24.11.2024.