junger Soldat, welcher hier Schildwacht stand, sahe sie weinen, frug sie aber nicht warum? sondern zog ein Stück Kreide aus seiner Tasche, und schrieb an die Rathhausthür:
"Geduld, Vernunft und Zeit, das sind gar schöne Sachen, "Die, was unmöglich scheint, noch möglich können machen.
Darauf nahm er sie bei der Hand und sagte: Hier, junge Frau, kann sie lesen? sie schlug ihre nassen Au- gen auf, las, und wurde gestärkt; denn sie hielt diese Worte für eine glückliche Weißagung, daß der Himmel ihre jetzigen unverschuldeten Leiden ihr wieder mit Freude vergelten würde. Es ahndete ihr aber nicht, daß, ehe dieses geschähe, sie noch weit größere Kum- merberge zu übersteigen haben würde.
Nun ward sie zum Scheidungsverhör gerufen, alle Punkte wurden zum Besten des Mannes verfügt, und die Scheidung bewilliget. Der Mann wurde nun nicht allein seine Frau los, sondern alle vortheilhafte Bedingungen, welche List und Eigennutz ersinnen können, wurden ihm noch bey der Trennung zugestan- den. Alles dasjenige, was sie ihm als Ausstattung zugebracht hatte, behielt er an sich, als ein Muttergut für seine beiden noch lebenden Kinder, welche, weil es Söhne waren, in seiner Versorgung blieben. Das
junger Soldat, welcher hier Schildwacht ſtand, ſahe ſie weinen, frug ſie aber nicht warum? ſondern zog ein Stuͤck Kreide aus ſeiner Taſche, und ſchrieb an die Rathhausthuͤr:
„Geduld, Vernunft und Zeit, das ſind gar ſchoͤne Sachen, „Die, was unmoͤglich ſcheint, noch moͤglich koͤnnen machen.
Darauf nahm er ſie bei der Hand und ſagte: Hier, junge Frau, kann ſie leſen? ſie ſchlug ihre naſſen Au- gen auf, las, und wurde geſtaͤrkt; denn ſie hielt dieſe Worte fuͤr eine gluͤckliche Weißagung, daß der Himmel ihre jetzigen unverſchuldeten Leiden ihr wieder mit Freude vergelten wuͤrde. Es ahndete ihr aber nicht, daß, ehe dieſes geſchaͤhe, ſie noch weit groͤßere Kum- merberge zu uͤberſteigen haben wuͤrde.
Nun ward ſie zum Scheidungsverhoͤr gerufen, alle Punkte wurden zum Beſten des Mannes verfuͤgt, und die Scheidung bewilliget. Der Mann wurde nun nicht allein ſeine Frau los, ſondern alle vortheilhafte Bedingungen, welche Liſt und Eigennutz erſinnen koͤnnen, wurden ihm noch bey der Trennung zugeſtan- den. Alles dasjenige, was ſie ihm als Ausſtattung zugebracht hatte, behielt er an ſich, als ein Muttergut fuͤr ſeine beiden noch lebenden Kinder, welche, weil es Soͤhne waren, in ſeiner Verſorgung blieben. Das
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junger Soldat, welcher hier Schildwacht ſtand, ſahe
ſie weinen, frug ſie aber nicht warum? ſondern zog
ein Stuͤck Kreide aus ſeiner Taſche, und ſchrieb an die
Rathhausthuͤr:
„Geduld, Vernunft und Zeit, das ſind gar ſchoͤne
Sachen,
„Die, was unmoͤglich ſcheint, noch moͤglich koͤnnen
machen.
Darauf nahm er ſie bei der Hand und ſagte: Hier,
junge Frau, kann ſie leſen? ſie ſchlug ihre naſſen Au-
gen auf, las, und wurde geſtaͤrkt; denn ſie hielt dieſe
Worte fuͤr eine gluͤckliche Weißagung, daß der Himmel
ihre jetzigen unverſchuldeten Leiden ihr wieder mit
Freude vergelten wuͤrde. Es ahndete ihr aber nicht,
daß, ehe dieſes geſchaͤhe, ſie noch weit groͤßere Kum-
merberge zu uͤberſteigen haben wuͤrde.
Nun ward ſie zum Scheidungsverhoͤr gerufen, alle
Punkte wurden zum Beſten des Mannes verfuͤgt, und
die Scheidung bewilliget. Der Mann wurde nun
nicht allein ſeine Frau los, ſondern alle vortheilhafte
Bedingungen, welche Liſt und Eigennutz erſinnen
koͤnnen, wurden ihm noch bey der Trennung zugeſtan-
den. Alles dasjenige, was ſie ihm als Ausſtattung
zugebracht hatte, behielt er an ſich, als ein Muttergut
fuͤr ſeine beiden noch lebenden Kinder, welche, weil es
Soͤhne waren, in ſeiner Verſorgung blieben. Das
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/88>, abgerufen am 21.11.2024.
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