Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

schuldigen Freuden nichts von den Elendsketten, an
welchen die Menschheit schmiedet, gewahr worden war.
Dort wünschte sie zu sterben. Aber daran war leider
so wenig zu denken, als daß sie in Schwiebus bleiben
konnte; denn ihrer schon höchstbedrängten Mutter hatte
die Schmach, in welche der Name ihrer Tochter durch
die Scheidung versunken war, den letzten tödtlichen
Schlag gegeben. Sie, welche das allerzarteste Gefühl
für die Ehre in allen Handlungen ihres Lebens beob-
achtet hatte, wurde nun durch das Unglück ihres eig-
nen Kindes daran aufs höchste gekränkt. Von Jeder-
mann, den sie sahe, glaubte sie getadelt und bespottet
zu werden, und von ihrem dritten bösen Manne mußte
sie täglich Seelen verwundende Worte darüber anhö-
ren. So schwere innere und äußere Leiden auf einmal
würkten so heftig auf sie, daß sie in eine Auszehrung
verfiel, an welcher sie jedoch, vermöge ihrer starken
Natur, einige Jahre krankte, ehe ihre schöne Seele
von dem unbefleckten Körper sich trennte und eine Welt
verließ, welche eines solchen Kleinods nicht werth war.

Zu einer so gekränkten Mutter konnte also die Toch-
ter nicht Zuflucht nehmen, welche so viel Ursach an
ihren Leiden hatte. Sie schrieb daher nur an dieselbe
und bat sie um Verzeihung wegen des großen Herze-
leides, welches sie ihr hätte machen müssen. Die Mut-
ter verzieh ihr, und schickte ihre Söhne dann und wann

ſchuldigen Freuden nichts von den Elendsketten, an
welchen die Menſchheit ſchmiedet, gewahr worden war.
Dort wuͤnſchte ſie zu ſterben. Aber daran war leider
ſo wenig zu denken, als daß ſie in Schwiebus bleiben
konnte; denn ihrer ſchon hoͤchſtbedraͤngten Mutter hatte
die Schmach, in welche der Name ihrer Tochter durch
die Scheidung verſunken war, den letzten toͤdtlichen
Schlag gegeben. Sie, welche das allerzarteſte Gefuͤhl
fuͤr die Ehre in allen Handlungen ihres Lebens beob-
achtet hatte, wurde nun durch das Ungluͤck ihres eig-
nen Kindes daran aufs hoͤchſte gekraͤnkt. Von Jeder-
mann, den ſie ſahe, glaubte ſie getadelt und beſpottet
zu werden, und von ihrem dritten boͤſen Manne mußte
ſie taͤglich Seelen verwundende Worte daruͤber anhoͤ-
ren. So ſchwere innere und aͤußere Leiden auf einmal
wuͤrkten ſo heftig auf ſie, daß ſie in eine Auszehrung
verfiel, an welcher ſie jedoch, vermoͤge ihrer ſtarken
Natur, einige Jahre krankte, ehe ihre ſchoͤne Seele
von dem unbefleckten Koͤrper ſich trennte und eine Welt
verließ, welche eines ſolchen Kleinods nicht werth war.

Zu einer ſo gekraͤnkten Mutter konnte alſo die Toch-
ter nicht Zuflucht nehmen, welche ſo viel Urſach an
ihren Leiden hatte. Sie ſchrieb daher nur an dieſelbe
und bat ſie um Verzeihung wegen des großen Herze-
leides, welches ſie ihr haͤtte machen muͤſſen. Die Mut-
ter verzieh ihr, und ſchickte ihre Soͤhne dann und wann

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0091" n="59"/>
&#x017F;chuldigen Freuden nichts von den Elendsketten, an<lb/>
welchen die Men&#x017F;chheit &#x017F;chmiedet, gewahr worden war.<lb/>
Dort wu&#x0364;n&#x017F;chte &#x017F;ie zu &#x017F;terben. Aber daran war leider<lb/>
&#x017F;o wenig zu denken, als daß &#x017F;ie in Schwiebus bleiben<lb/>
konnte; denn ihrer &#x017F;chon ho&#x0364;ch&#x017F;tbedra&#x0364;ngten Mutter hatte<lb/>
die Schmach, in welche der Name ihrer Tochter durch<lb/>
die Scheidung ver&#x017F;unken war, den letzten to&#x0364;dtlichen<lb/>
Schlag gegeben. Sie, welche das allerzarte&#x017F;te Gefu&#x0364;hl<lb/>
fu&#x0364;r die Ehre in allen Handlungen ihres Lebens beob-<lb/>
achtet hatte, wurde nun durch das Unglu&#x0364;ck ihres eig-<lb/>
nen Kindes daran aufs ho&#x0364;ch&#x017F;te gekra&#x0364;nkt. Von Jeder-<lb/>
mann, den &#x017F;ie &#x017F;ahe, glaubte &#x017F;ie getadelt und be&#x017F;pottet<lb/>
zu werden, und von ihrem dritten bo&#x0364;&#x017F;en Manne mußte<lb/>
&#x017F;ie ta&#x0364;glich Seelen verwundende Worte daru&#x0364;ber anho&#x0364;-<lb/>
ren. So &#x017F;chwere innere und a&#x0364;ußere Leiden auf einmal<lb/>
wu&#x0364;rkten &#x017F;o heftig auf &#x017F;ie, daß &#x017F;ie in eine Auszehrung<lb/>
verfiel, an welcher &#x017F;ie jedoch, vermo&#x0364;ge ihrer &#x017F;tarken<lb/>
Natur, einige Jahre krankte, ehe ihre &#x017F;cho&#x0364;ne Seele<lb/>
von dem unbefleckten Ko&#x0364;rper &#x017F;ich trennte und eine Welt<lb/>
verließ, welche eines &#x017F;olchen Kleinods nicht werth war.</p><lb/>
        <p>Zu einer &#x017F;o gekra&#x0364;nkten Mutter konnte al&#x017F;o die Toch-<lb/>
ter nicht Zuflucht nehmen, welche &#x017F;o viel Ur&#x017F;ach an<lb/>
ihren Leiden hatte. Sie &#x017F;chrieb daher nur an die&#x017F;elbe<lb/>
und bat &#x017F;ie um Verzeihung wegen des großen Herze-<lb/>
leides, welches &#x017F;ie ihr ha&#x0364;tte machen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Die Mut-<lb/>
ter verzieh ihr, und &#x017F;chickte ihre So&#x0364;hne dann und wann<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0091] ſchuldigen Freuden nichts von den Elendsketten, an welchen die Menſchheit ſchmiedet, gewahr worden war. Dort wuͤnſchte ſie zu ſterben. Aber daran war leider ſo wenig zu denken, als daß ſie in Schwiebus bleiben konnte; denn ihrer ſchon hoͤchſtbedraͤngten Mutter hatte die Schmach, in welche der Name ihrer Tochter durch die Scheidung verſunken war, den letzten toͤdtlichen Schlag gegeben. Sie, welche das allerzarteſte Gefuͤhl fuͤr die Ehre in allen Handlungen ihres Lebens beob- achtet hatte, wurde nun durch das Ungluͤck ihres eig- nen Kindes daran aufs hoͤchſte gekraͤnkt. Von Jeder- mann, den ſie ſahe, glaubte ſie getadelt und beſpottet zu werden, und von ihrem dritten boͤſen Manne mußte ſie taͤglich Seelen verwundende Worte daruͤber anhoͤ- ren. So ſchwere innere und aͤußere Leiden auf einmal wuͤrkten ſo heftig auf ſie, daß ſie in eine Auszehrung verfiel, an welcher ſie jedoch, vermoͤge ihrer ſtarken Natur, einige Jahre krankte, ehe ihre ſchoͤne Seele von dem unbefleckten Koͤrper ſich trennte und eine Welt verließ, welche eines ſolchen Kleinods nicht werth war. Zu einer ſo gekraͤnkten Mutter konnte alſo die Toch- ter nicht Zuflucht nehmen, welche ſo viel Urſach an ihren Leiden hatte. Sie ſchrieb daher nur an dieſelbe und bat ſie um Verzeihung wegen des großen Herze- leides, welches ſie ihr haͤtte machen muͤſſen. Die Mut- ter verzieh ihr, und ſchickte ihre Soͤhne dann und wann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/91
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/91>, abgerufen am 18.05.2024.