Keller, Gottfried: Romeo und Julia auf dem Dorfe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 233–348. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Lustige neben dem Abgeschmackten, das sinnlich Verführerische neben dem Entsetzlichen, und der epische Gleichmuth, den der Dichter in der Darstellung sich zu bewahren weiß, läßt erkennen, daß er sich dieser Gegensätze deutlich bewußt ist und sich mit künstlerischem Behagen daran weidet. Denn eine tiefhumoristische Lebensansicht liegt Allem, was Keller gedichtet hat, zu Grunde und zwar der Humor eines wahren Dichters, der die vielfachen Lücken und Risse in der Weltordnung, ohne sie zu beschönigen, immer mit seinem Herzen auszufüllen bereit ist. Im Gegensatz aber zu dem pathetischen Humor, mit dem etwa Jean Paul den Kehricht kleinbürgerlicher Armseligkeit vergoldet, hat Keller den realistischen Muth, die Dinge beim Namen zu nennen und das Gemeine, Philisterhafte, Menschenunwürdige nicht etwa mit sentimentaler Jedealisirung poesiefähig machen zu wollen, sondern es zu lassen, wie es ist, da es das ewig Hoffnungslose und doch Allmächtige ist. Nur zum Trost für sich und Gleichgesinnte stellt er das Schöne, Echte und Herzerfreuende dicht daneben, wie etwa in seiner "Regel Amrain" oder in der hier mitgetheilten Novelle, und wo überhaupt kein Kontrast dieser Art angebracht wäre, da es sich, wie bei den "gerechten Kammmachern", um Zustände handelt, in denen eben der Sieg der Nüchternheit die humoristische Spitze bildet, weiß er durch leise Uebertreibung der Proportionen, durch Häufung und Steigerung des Alltäglichen zum Typischen, eine so großartige barocke Wirkung zu erzielen, daß das Nichtige und Lächerliche -- umgekehrt wie im Sprichwort -- ins Erhabene umschlägt. In dieser Kunst hat er nur Einen überlegenen Vorgänger: den Don Quixote des Cervantes. Leider hat uns der Dichter seit jenen klassischen "Leuten von Seldwyla" vergebens auf ein Werk hoffen lassen, das alle Kräfte seiner reichen Natur in voller Entfaltung zeigte. Sein Roman, "der grüne Heinrich", (Braunschweig 1854 Lustige neben dem Abgeschmackten, das sinnlich Verführerische neben dem Entsetzlichen, und der epische Gleichmuth, den der Dichter in der Darstellung sich zu bewahren weiß, läßt erkennen, daß er sich dieser Gegensätze deutlich bewußt ist und sich mit künstlerischem Behagen daran weidet. Denn eine tiefhumoristische Lebensansicht liegt Allem, was Keller gedichtet hat, zu Grunde und zwar der Humor eines wahren Dichters, der die vielfachen Lücken und Risse in der Weltordnung, ohne sie zu beschönigen, immer mit seinem Herzen auszufüllen bereit ist. Im Gegensatz aber zu dem pathetischen Humor, mit dem etwa Jean Paul den Kehricht kleinbürgerlicher Armseligkeit vergoldet, hat Keller den realistischen Muth, die Dinge beim Namen zu nennen und das Gemeine, Philisterhafte, Menschenunwürdige nicht etwa mit sentimentaler Jedealisirung poesiefähig machen zu wollen, sondern es zu lassen, wie es ist, da es das ewig Hoffnungslose und doch Allmächtige ist. Nur zum Trost für sich und Gleichgesinnte stellt er das Schöne, Echte und Herzerfreuende dicht daneben, wie etwa in seiner „Regel Amrain“ oder in der hier mitgetheilten Novelle, und wo überhaupt kein Kontrast dieser Art angebracht wäre, da es sich, wie bei den „gerechten Kammmachern“, um Zustände handelt, in denen eben der Sieg der Nüchternheit die humoristische Spitze bildet, weiß er durch leise Uebertreibung der Proportionen, durch Häufung und Steigerung des Alltäglichen zum Typischen, eine so großartige barocke Wirkung zu erzielen, daß das Nichtige und Lächerliche — umgekehrt wie im Sprichwort — ins Erhabene umschlägt. In dieser Kunst hat er nur Einen überlegenen Vorgänger: den Don Quixote des Cervantes. Leider hat uns der Dichter seit jenen klassischen „Leuten von Seldwyla“ vergebens auf ein Werk hoffen lassen, das alle Kräfte seiner reichen Natur in voller Entfaltung zeigte. Sein Roman, „der grüne Heinrich“, (Braunschweig 1854 <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0007"/> Lustige neben dem Abgeschmackten, das sinnlich Verführerische neben dem Entsetzlichen, und der epische Gleichmuth, den der Dichter in der Darstellung sich zu bewahren weiß, läßt erkennen, daß er sich dieser Gegensätze deutlich bewußt ist und sich mit künstlerischem Behagen daran weidet. Denn eine tiefhumoristische Lebensansicht liegt Allem, was Keller gedichtet hat, zu Grunde und zwar der Humor eines wahren Dichters, der die vielfachen Lücken und Risse in der Weltordnung, ohne sie zu beschönigen, immer mit seinem Herzen auszufüllen bereit ist. Im Gegensatz aber zu dem pathetischen Humor, mit dem etwa Jean Paul den Kehricht kleinbürgerlicher Armseligkeit vergoldet, hat Keller den realistischen Muth, die Dinge beim Namen zu nennen und das Gemeine, Philisterhafte, Menschenunwürdige nicht etwa mit sentimentaler Jedealisirung poesiefähig machen zu wollen, sondern es zu lassen, wie es ist, da es das ewig Hoffnungslose und doch Allmächtige ist. Nur zum Trost für sich und Gleichgesinnte stellt er das Schöne, Echte und Herzerfreuende dicht daneben, wie etwa in seiner „Regel Amrain“ oder in der hier mitgetheilten Novelle, und wo überhaupt kein Kontrast dieser Art angebracht wäre, da es sich, wie bei den „gerechten Kammmachern“, um Zustände handelt, in denen eben der Sieg der Nüchternheit die humoristische Spitze bildet, weiß er durch leise Uebertreibung der Proportionen, durch Häufung und Steigerung des Alltäglichen zum Typischen, eine so großartige barocke Wirkung zu erzielen, daß das Nichtige und Lächerliche — umgekehrt wie im Sprichwort — ins Erhabene umschlägt. In dieser Kunst hat er nur Einen überlegenen Vorgänger: den Don Quixote des Cervantes. Leider hat uns der Dichter seit jenen klassischen „Leuten von Seldwyla“ vergebens auf ein Werk hoffen lassen, das alle Kräfte seiner reichen Natur in voller Entfaltung zeigte. Sein Roman, „der grüne Heinrich“, (Braunschweig 1854<lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [0007]
Lustige neben dem Abgeschmackten, das sinnlich Verführerische neben dem Entsetzlichen, und der epische Gleichmuth, den der Dichter in der Darstellung sich zu bewahren weiß, läßt erkennen, daß er sich dieser Gegensätze deutlich bewußt ist und sich mit künstlerischem Behagen daran weidet. Denn eine tiefhumoristische Lebensansicht liegt Allem, was Keller gedichtet hat, zu Grunde und zwar der Humor eines wahren Dichters, der die vielfachen Lücken und Risse in der Weltordnung, ohne sie zu beschönigen, immer mit seinem Herzen auszufüllen bereit ist. Im Gegensatz aber zu dem pathetischen Humor, mit dem etwa Jean Paul den Kehricht kleinbürgerlicher Armseligkeit vergoldet, hat Keller den realistischen Muth, die Dinge beim Namen zu nennen und das Gemeine, Philisterhafte, Menschenunwürdige nicht etwa mit sentimentaler Jedealisirung poesiefähig machen zu wollen, sondern es zu lassen, wie es ist, da es das ewig Hoffnungslose und doch Allmächtige ist. Nur zum Trost für sich und Gleichgesinnte stellt er das Schöne, Echte und Herzerfreuende dicht daneben, wie etwa in seiner „Regel Amrain“ oder in der hier mitgetheilten Novelle, und wo überhaupt kein Kontrast dieser Art angebracht wäre, da es sich, wie bei den „gerechten Kammmachern“, um Zustände handelt, in denen eben der Sieg der Nüchternheit die humoristische Spitze bildet, weiß er durch leise Uebertreibung der Proportionen, durch Häufung und Steigerung des Alltäglichen zum Typischen, eine so großartige barocke Wirkung zu erzielen, daß das Nichtige und Lächerliche — umgekehrt wie im Sprichwort — ins Erhabene umschlägt. In dieser Kunst hat er nur Einen überlegenen Vorgänger: den Don Quixote des Cervantes. Leider hat uns der Dichter seit jenen klassischen „Leuten von Seldwyla“ vergebens auf ein Werk hoffen lassen, das alle Kräfte seiner reichen Natur in voller Entfaltung zeigte. Sein Roman, „der grüne Heinrich“, (Braunschweig 1854
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