Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

anlagen und körperlichen Physiognomieen der
Gemeinde die gehörige Mannigfaltigkeit bewah¬
ren, und sie entwickeln hierin eine tiefere und
gelehrtere Einsicht für ein frisches Fortgedeihen,
als manche reiche Patricier- oder Handelsstadt
und als die europäischen Fürstengeschlechter.

Die Eintheilung dieses Besitzes aber ver¬
ändert sich von Jahr zu Jahr theilweise und mit
jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬
lichkeit. Die Kinder der gestrigen Bettler sind
heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬
men dieser treiben sich morgen mühsam in der
Mittelklasse umher, um entweder ganz zu ver¬
armen oder sich wieder aufzuschwingen.

Mein Vater starb so früh, daß ich ihn nicht
mehr von seinem Vater konnte erzählen hören,
ich weiß daher so gut wie Nichts von diesem
Manne; nur so viel ist gewiß, daß damals die
Reihe einer ehrbaren Unvermöglichkeit an seiner
engeren Familie war. Da ich nicht annehmen
mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein
liederlicher Kauz gewesen sei, so halte ich es für
wahrscheinlich, daß sein Vermögen durch eine sehr

anlagen und koͤrperlichen Phyſiognomieen der
Gemeinde die gehoͤrige Mannigfaltigkeit bewah¬
ren, und ſie entwickeln hierin eine tiefere und
gelehrtere Einſicht fuͤr ein friſches Fortgedeihen,
als manche reiche Patricier- oder Handelsſtadt
und als die europaͤiſchen Fuͤrſtengeſchlechter.

Die Eintheilung dieſes Beſitzes aber ver¬
aͤndert ſich von Jahr zu Jahr theilweiſe und mit
jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬
lichkeit. Die Kinder der geſtrigen Bettler ſind
heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬
men dieſer treiben ſich morgen muͤhſam in der
Mittelklaſſe umher, um entweder ganz zu ver¬
armen oder ſich wieder aufzuſchwingen.

Mein Vater ſtarb ſo fruͤh, daß ich ihn nicht
mehr von ſeinem Vater konnte erzaͤhlen hoͤren,
ich weiß daher ſo gut wie Nichts von dieſem
Manne; nur ſo viel iſt gewiß, daß damals die
Reihe einer ehrbaren Unvermoͤglichkeit an ſeiner
engeren Familie war. Da ich nicht annehmen
mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein
liederlicher Kauz geweſen ſei, ſo halte ich es fuͤr
wahrſcheinlich, daß ſein Vermoͤgen durch eine ſehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="95"/>
anlagen und ko&#x0364;rperlichen Phy&#x017F;iognomieen der<lb/>
Gemeinde die geho&#x0364;rige Mannigfaltigkeit bewah¬<lb/>
ren, und &#x017F;ie entwickeln hierin eine tiefere und<lb/>
gelehrtere Ein&#x017F;icht fu&#x0364;r ein fri&#x017F;ches Fortgedeihen,<lb/>
als manche reiche Patricier- oder Handels&#x017F;tadt<lb/>
und als die europa&#x0364;i&#x017F;chen Fu&#x0364;r&#x017F;tenge&#x017F;chlechter.</p><lb/>
        <p>Die Eintheilung die&#x017F;es Be&#x017F;itzes aber ver¬<lb/>
a&#x0364;ndert &#x017F;ich von Jahr zu Jahr theilwei&#x017F;e und mit<lb/>
jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬<lb/>
lichkeit. Die Kinder der ge&#x017F;trigen Bettler &#x017F;ind<lb/>
heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬<lb/>
men die&#x017F;er treiben &#x017F;ich morgen mu&#x0364;h&#x017F;am in der<lb/>
Mittelkla&#x017F;&#x017F;e umher, um entweder ganz zu ver¬<lb/>
armen oder &#x017F;ich wieder aufzu&#x017F;chwingen.</p><lb/>
        <p>Mein Vater &#x017F;tarb &#x017F;o fru&#x0364;h, daß ich ihn nicht<lb/>
mehr von <hi rendition="#g">&#x017F;einem</hi> Vater konnte erza&#x0364;hlen ho&#x0364;ren,<lb/>
ich weiß daher &#x017F;o gut wie Nichts von die&#x017F;em<lb/>
Manne; nur &#x017F;o viel i&#x017F;t gewiß, daß damals die<lb/>
Reihe einer ehrbaren Unvermo&#x0364;glichkeit an &#x017F;einer<lb/>
engeren Familie war. Da ich nicht annehmen<lb/>
mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein<lb/>
liederlicher Kauz gewe&#x017F;en &#x017F;ei, &#x017F;o halte ich es fu&#x0364;r<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich, daß &#x017F;ein Vermo&#x0364;gen durch eine &#x017F;ehr<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0109] anlagen und koͤrperlichen Phyſiognomieen der Gemeinde die gehoͤrige Mannigfaltigkeit bewah¬ ren, und ſie entwickeln hierin eine tiefere und gelehrtere Einſicht fuͤr ein friſches Fortgedeihen, als manche reiche Patricier- oder Handelsſtadt und als die europaͤiſchen Fuͤrſtengeſchlechter. Die Eintheilung dieſes Beſitzes aber ver¬ aͤndert ſich von Jahr zu Jahr theilweiſe und mit jedem halben Jahrhundert ganz bis zur Unkennt¬ lichkeit. Die Kinder der geſtrigen Bettler ſind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkom¬ men dieſer treiben ſich morgen muͤhſam in der Mittelklaſſe umher, um entweder ganz zu ver¬ armen oder ſich wieder aufzuſchwingen. Mein Vater ſtarb ſo fruͤh, daß ich ihn nicht mehr von ſeinem Vater konnte erzaͤhlen hoͤren, ich weiß daher ſo gut wie Nichts von dieſem Manne; nur ſo viel iſt gewiß, daß damals die Reihe einer ehrbaren Unvermoͤglichkeit an ſeiner engeren Familie war. Da ich nicht annehmen mag, daß der ganz unbekannte Urgroßvater ein liederlicher Kauz geweſen ſei, ſo halte ich es fuͤr wahrſcheinlich, daß ſein Vermoͤgen durch eine ſehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/109
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/109>, abgerufen am 21.11.2024.