habe, mir dasselbe auszumalen und das nie Er¬ lebte zu vergegenwärtigen.
So aber muß ich mich darauf beschränken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬ sale entgegenschreite, mich zusammen zu fassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken: Wie würde Er nun an deiner Stelle handeln oder was würde Er von deinem Thun urthei¬ len, wenn er lebte. Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebens¬ schnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen schwachen Händen zurück gelassen und es bleibt mir nur übrig, sie mit Ehren an die dunkle Zu¬ kunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. -- Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenräumen, wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen
habe, mir daſſelbe auszumalen und das nie Er¬ lebte zu vergegenwaͤrtigen.
So aber muß ich mich darauf beſchraͤnken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬ ſale entgegenſchreite, mich zuſammen zu faſſen und in der Tiefe meiner Seele ſtill zu bedenken: Wie wuͤrde Er nun an deiner Stelle handeln oder was wuͤrde Er von deinem Thun urthei¬ len, wenn er lebte. Er iſt vor der Mittagshoͤhe ſeines Lebens zuruͤckgetreten in das unerforſchliche All und hat die uͤberkommene goldene Lebens¬ ſchnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen ſchwachen Haͤnden zuruͤck gelaſſen und es bleibt mir nur uͤbrig, ſie mit Ehren an die dunkle Zu¬ kunft zu knuͤpfen oder vielleicht fuͤr immer zu zerreißen, wenn auch ich ſterben werde. — Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwiſchenraͤumen, wiederholt getraͤumt, der Vater ſei ploͤtzlich von einer langen Reiſe aus weiter Ferne, Gluͤck und Freude bringend, zuruͤckgekehrt, und ſie erzaͤhlte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu verſinken, waͤhrend ich, von einem heiligen
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0137"n="123"/>
habe, mir daſſelbe auszumalen und das nie Er¬<lb/>
lebte zu vergegenwaͤrtigen.</p><lb/><p>So aber muß ich mich darauf beſchraͤnken, je<lb/>
mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬<lb/>ſale entgegenſchreite, mich zuſammen zu faſſen<lb/>
und in der Tiefe meiner Seele ſtill zu bedenken:<lb/>
Wie wuͤrde Er nun an deiner Stelle handeln<lb/>
oder was wuͤrde Er von deinem Thun urthei¬<lb/>
len, wenn er lebte. Er iſt vor der Mittagshoͤhe<lb/>ſeines Lebens zuruͤckgetreten in das unerforſchliche<lb/>
All und hat die uͤberkommene goldene Lebens¬<lb/>ſchnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen<lb/>ſchwachen Haͤnden zuruͤck gelaſſen und es bleibt<lb/>
mir nur uͤbrig, ſie mit Ehren an die dunkle Zu¬<lb/>
kunft zu knuͤpfen oder vielleicht fuͤr immer zu<lb/>
zerreißen, wenn auch ich ſterben werde. — Nach<lb/>
vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen<lb/>
Zwiſchenraͤumen, wiederholt getraͤumt, der Vater<lb/>ſei ploͤtzlich von einer langen Reiſe aus weiter<lb/>
Ferne, Gluͤck und Freude bringend, zuruͤckgekehrt,<lb/>
und ſie erzaͤhlte es jedesmal am Morgen, um<lb/>
darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen<lb/>
zu verſinken, waͤhrend ich, von einem heiligen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[123/0137]
habe, mir daſſelbe auszumalen und das nie Er¬
lebte zu vergegenwaͤrtigen.
So aber muß ich mich darauf beſchraͤnken, je
mehr ich zum Manne werde und meinem Schick¬
ſale entgegenſchreite, mich zuſammen zu faſſen
und in der Tiefe meiner Seele ſtill zu bedenken:
Wie wuͤrde Er nun an deiner Stelle handeln
oder was wuͤrde Er von deinem Thun urthei¬
len, wenn er lebte. Er iſt vor der Mittagshoͤhe
ſeines Lebens zuruͤckgetreten in das unerforſchliche
All und hat die uͤberkommene goldene Lebens¬
ſchnur, deren Anfang Niemand kennt, in meinen
ſchwachen Haͤnden zuruͤck gelaſſen und es bleibt
mir nur uͤbrig, ſie mit Ehren an die dunkle Zu¬
kunft zu knuͤpfen oder vielleicht fuͤr immer zu
zerreißen, wenn auch ich ſterben werde. — Nach
vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen
Zwiſchenraͤumen, wiederholt getraͤumt, der Vater
ſei ploͤtzlich von einer langen Reiſe aus weiter
Ferne, Gluͤck und Freude bringend, zuruͤckgekehrt,
und ſie erzaͤhlte es jedesmal am Morgen, um
darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen
zu verſinken, waͤhrend ich, von einem heiligen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/137>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.