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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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lig tiefer in den Haushalt der Mitbewohner
ein und ließ mich oft aus ihren Schüsseln bewir¬
then, und undankbarer Weise schmeckten mir die
Speisen überall besser, als bei meiner Mutter.
Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte
ganz die gleichen sind, doch ihren Speisen durch
die Zubereitung einen besondern Geschmack, wel¬
cher ihrem Charakter entspricht. Durch eine kleine
Bevorzugung eines Gewürzes oder eines Krau¬
tes, durch größere Fettigkeit oder Trockenheit,
Weichheit oder Härte, bekommen alle ihre Spei¬
sen einen bestimmten Charakter, welcher das ge¬
näschige oder nüchterne, weichliche oder spröde,
hitzige oder kalte, das verschwenderische oder gei¬
zige Wesen der Köchin ausspricht, und man er¬
kennt sicher die Hausfrau aus den wichtigsten
Speisen des Bürgerstandes, nämlich dem Rind¬
fleisch und dem Gemüse, dem Braten und dem
Salate; ich meinerseits, als ein junger frühzeitiger
Kenner, habe aus einer bloßen Fleischbrühe den
Instinkt geschöpft, wie ich mich zu der Meisterin
derselben zu verhalten habe. Die Speisen meiner
Mutter hingegen ermangelten, so zu sagen, aller

lig tiefer in den Haushalt der Mitbewohner
ein und ließ mich oft aus ihren Schuͤſſeln bewir¬
then, und undankbarer Weiſe ſchmeckten mir die
Speiſen uͤberall beſſer, als bei meiner Mutter.
Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte
ganz die gleichen ſind, doch ihren Speiſen durch
die Zubereitung einen beſondern Geſchmack, wel¬
cher ihrem Charakter entſpricht. Durch eine kleine
Bevorzugung eines Gewuͤrzes oder eines Krau¬
tes, durch groͤßere Fettigkeit oder Trockenheit,
Weichheit oder Haͤrte, bekommen alle ihre Spei¬
ſen einen beſtimmten Charakter, welcher das ge¬
naͤſchige oder nuͤchterne, weichliche oder ſproͤde,
hitzige oder kalte, das verſchwenderiſche oder gei¬
zige Weſen der Koͤchin ausſpricht, und man er¬
kennt ſicher die Hausfrau aus den wichtigſten
Speiſen des Buͤrgerſtandes, naͤmlich dem Rind¬
fleiſch und dem Gemuͤſe, dem Braten und dem
Salate; ich meinerſeits, als ein junger fruͤhzeitiger
Kenner, habe aus einer bloßen Fleiſchbruͤhe den
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[146/0160] lig tiefer in den Haushalt der Mitbewohner ein und ließ mich oft aus ihren Schuͤſſeln bewir¬ then, und undankbarer Weiſe ſchmeckten mir die Speiſen uͤberall beſſer, als bei meiner Mutter. Jede Hausfrau verleiht, auch wenn die Recepte ganz die gleichen ſind, doch ihren Speiſen durch die Zubereitung einen beſondern Geſchmack, wel¬ cher ihrem Charakter entſpricht. Durch eine kleine Bevorzugung eines Gewuͤrzes oder eines Krau¬ tes, durch groͤßere Fettigkeit oder Trockenheit, Weichheit oder Haͤrte, bekommen alle ihre Spei¬ ſen einen beſtimmten Charakter, welcher das ge¬ naͤſchige oder nuͤchterne, weichliche oder ſproͤde, hitzige oder kalte, das verſchwenderiſche oder gei¬ zige Weſen der Koͤchin ausſpricht, und man er¬ kennt ſicher die Hausfrau aus den wichtigſten Speiſen des Buͤrgerſtandes, naͤmlich dem Rind¬ fleiſch und dem Gemuͤſe, dem Braten und dem Salate; ich meinerſeits, als ein junger fruͤhzeitiger Kenner, habe aus einer bloßen Fleiſchbruͤhe den Inſtinkt geſchoͤpft, wie ich mich zu der Meiſterin derſelben zu verhalten habe. Die Speiſen meiner Mutter hingegen ermangelten, ſo zu ſagen, aller

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/160>, abgerufen am 24.11.2024.