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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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eigenthümlichste Weise beherrschte. Sie konnte
nur gebrochen Gedrucktes lesen, hingegen weder
schreiben noch in arabischen Zahlen rechnen, welche
letzteren es ihr nie zu kennen gelang; sondern
ihre ganze Rechnenkunst bestand in einer römi¬
schen Eins, einer Fünf, einer Zehn und einer
Hundert. Wie sie diese vier Ziffern in ihrer frü¬
hen Jugend, in einer entlegenen und vergessenen
Landesgegend überkommen hatte, überliefert durch
einen Jahrtausend alten Gebrauch, so handhabte
sie dieselben mit einer merkwürdigen Gewandtheit.
Sie führte kein Buch und besaß nichts Geschrie¬
benes, war aber jeden Augenblick im Stande,
ihren ganzen Verkehr, der sich oft auf mehrere
Tausende in lauter kleinen Posten belief, zu über¬
sehen, indem sie mit großer Schnelligkeit das
Tischblatt mittelst einer Kreide, deren sie immer
einige Endchen in der Tasche führte, mit mäch¬
tigen Säulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte
sie aus ihrem Gedächtnisse alle Summen solcher¬
gestalt aufgesetzt, so erreichte sie ihren Zweck ein¬
fach dadurch, daß sie mit dem nassen Finger eine
Reihe um die andere ebenso flink wieder aus¬

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eigenthuͤmlichſte Weiſe beherrſchte. Sie konnte
nur gebrochen Gedrucktes leſen, hingegen weder
ſchreiben noch in arabiſchen Zahlen rechnen, welche
letzteren es ihr nie zu kennen gelang; ſondern
ihre ganze Rechnenkunſt beſtand in einer roͤmi¬
ſchen Eins, einer Fuͤnf, einer Zehn und einer
Hundert. Wie ſie dieſe vier Ziffern in ihrer fruͤ¬
hen Jugend, in einer entlegenen und vergeſſenen
Landesgegend uͤberkommen hatte, uͤberliefert durch
einen Jahrtauſend alten Gebrauch, ſo handhabte
ſie dieſelben mit einer merkwuͤrdigen Gewandtheit.
Sie fuͤhrte kein Buch und beſaß nichts Geſchrie¬
benes, war aber jeden Augenblick im Stande,
ihren ganzen Verkehr, der ſich oft auf mehrere
Tauſende in lauter kleinen Poſten belief, zu uͤber¬
ſehen, indem ſie mit großer Schnelligkeit das
Tiſchblatt mittelſt einer Kreide, deren ſie immer
einige Endchen in der Taſche fuͤhrte, mit maͤch¬
tigen Saͤulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte
ſie aus ihrem Gedaͤchtniſſe alle Summen ſolcher¬
geſtalt aufgeſetzt, ſo erreichte ſie ihren Zweck ein¬
fach dadurch, daß ſie mit dem naſſen Finger eine
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[177/0191] eigenthuͤmlichſte Weiſe beherrſchte. Sie konnte nur gebrochen Gedrucktes leſen, hingegen weder ſchreiben noch in arabiſchen Zahlen rechnen, welche letzteren es ihr nie zu kennen gelang; ſondern ihre ganze Rechnenkunſt beſtand in einer roͤmi¬ ſchen Eins, einer Fuͤnf, einer Zehn und einer Hundert. Wie ſie dieſe vier Ziffern in ihrer fruͤ¬ hen Jugend, in einer entlegenen und vergeſſenen Landesgegend uͤberkommen hatte, uͤberliefert durch einen Jahrtauſend alten Gebrauch, ſo handhabte ſie dieſelben mit einer merkwuͤrdigen Gewandtheit. Sie fuͤhrte kein Buch und beſaß nichts Geſchrie¬ benes, war aber jeden Augenblick im Stande, ihren ganzen Verkehr, der ſich oft auf mehrere Tauſende in lauter kleinen Poſten belief, zu uͤber¬ ſehen, indem ſie mit großer Schnelligkeit das Tiſchblatt mittelſt einer Kreide, deren ſie immer einige Endchen in der Taſche fuͤhrte, mit maͤch¬ tigen Saͤulen jener vier Ziffern bedeckte. Hatte ſie aus ihrem Gedaͤchtniſſe alle Summen ſolcher¬ geſtalt aufgeſetzt, ſo erreichte ſie ihren Zweck ein¬ fach dadurch, daß ſie mit dem naſſen Finger eine Reihe um die andere ebenſo flink wieder aus¬ I. 12

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/191>, abgerufen am 21.11.2024.