und düster haben sich Tod und Elend zwischen dem alten winklichten Gemäuer eingenistet, aus dessen Dunkelheiten die herrliche schimmervolle Landschaft das Auge um so mehr blendet. Und über die Gräber hin führt der Weg dann vol¬ lends, sich durch epheubewachsene Nagelfluhe empor windend, auf den Berg, wo er sich in einem weitgedehnten prächtigen Buchenwalde ver¬ liert.
Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch: er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Sammtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimath scheiden und in die Fremde, nach Deutschland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬ ten Blick über sein schönes Heimathland zu wer¬ fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬
und duͤſter haben ſich Tod und Elend zwiſchen dem alten winklichten Gemaͤuer eingeniſtet, aus deſſen Dunkelheiten die herrliche ſchimmervolle Landſchaft das Auge um ſo mehr blendet. Und uͤber die Graͤber hin fuͤhrt der Weg dann vol¬ lends, ſich durch epheubewachſene Nagelfluhe empor windend, auf den Berg, wo er ſich in einem weitgedehnten praͤchtigen Buchenwalde ver¬ liert.
Unter einer offenen Halle dieſes Waldes ging am fruͤhſten Oſtermorgen ein junger Menſch: er trug ein gruͤnes Roͤcklein mit uͤbergeſchlagenem ſchneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine ſchwarze Sammtmuͤtze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhaͤher ſteckte. Dieſe Dinge, nebſt Ort und Tageszeit, kuͤndigten den zwanzigjaͤhrigen Gefuͤhlsmenſchen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlaſſenen Heimath ſcheiden und in die Fremde, nach Deutſchland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬ ten Blick uͤber ſein ſchoͤnes Heimathland zu wer¬ fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0023"n="9"/>
und duͤſter haben ſich Tod und Elend zwiſchen<lb/>
dem alten winklichten Gemaͤuer eingeniſtet, aus<lb/>
deſſen Dunkelheiten die herrliche ſchimmervolle<lb/>
Landſchaft das Auge um ſo mehr blendet. Und<lb/>
uͤber die Graͤber hin fuͤhrt der Weg dann vol¬<lb/>
lends, ſich durch epheubewachſene Nagelfluhe<lb/>
empor windend, auf den Berg, wo er ſich in<lb/>
einem weitgedehnten praͤchtigen Buchenwalde ver¬<lb/>
liert.</p><lb/><p>Unter einer offenen Halle dieſes Waldes ging<lb/>
am fruͤhſten Oſtermorgen ein junger Menſch: er<lb/>
trug ein gruͤnes Roͤcklein mit uͤbergeſchlagenem<lb/>ſchneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar<lb/>
und darauf eine ſchwarze Sammtmuͤtze, in deren<lb/>
Falten ein feines weiß und blaues Federchen von<lb/>
einem Nußhaͤher ſteckte. Dieſe Dinge, nebſt Ort<lb/>
und Tageszeit, kuͤndigten den zwanzigjaͤhrigen<lb/>
Gefuͤhlsmenſchen an. Es war Heinrich Lee, der<lb/>
heute von der bisher nie verlaſſenen Heimath<lb/>ſcheiden und in die Fremde, nach Deutſchland<lb/>
ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬<lb/>
ten Blick uͤber ſein ſchoͤnes Heimathland zu wer¬<lb/>
fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[9/0023]
und duͤſter haben ſich Tod und Elend zwiſchen
dem alten winklichten Gemaͤuer eingeniſtet, aus
deſſen Dunkelheiten die herrliche ſchimmervolle
Landſchaft das Auge um ſo mehr blendet. Und
uͤber die Graͤber hin fuͤhrt der Weg dann vol¬
lends, ſich durch epheubewachſene Nagelfluhe
empor windend, auf den Berg, wo er ſich in
einem weitgedehnten praͤchtigen Buchenwalde ver¬
liert.
Unter einer offenen Halle dieſes Waldes ging
am fruͤhſten Oſtermorgen ein junger Menſch: er
trug ein gruͤnes Roͤcklein mit uͤbergeſchlagenem
ſchneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar
und darauf eine ſchwarze Sammtmuͤtze, in deren
Falten ein feines weiß und blaues Federchen von
einem Nußhaͤher ſteckte. Dieſe Dinge, nebſt Ort
und Tageszeit, kuͤndigten den zwanzigjaͤhrigen
Gefuͤhlsmenſchen an. Es war Heinrich Lee, der
heute von der bisher nie verlaſſenen Heimath
ſcheiden und in die Fremde, nach Deutſchland
ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letz¬
ten Blick uͤber ſein ſchoͤnes Heimathland zu wer¬
fen, beging er zugleich den Akt eines Naturkul¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/23>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.