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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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klimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom
ersten Mondstrahle bestreift wurde. Ich sah, wie
sie entsetzt ihr glühendes Auge auf mich richtete
und, doch lautlos, zusammenfuhr. Einen leisen
Schritt trat ich näher und hielt wieder ein;
meine Augen waren weit geöffnet, ich hielt die
Hände zitternd erhoben, indeß ich, von einem
frohen Feuer des Muthes durchströmt, auf das
Phantom losging. Da rief es mit gebieterischer
Stimme: Halt! kleines Ding! was bist Du?
und streckte drohend den Arm gegen mich aus,
daß ich fest auf der Stelle gebannt blieb. Wir
sahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre
Züge wohl, sie hatte ein weißes Nachtkleid um¬
geschlagen, Hals und Schultern waren entblößt
und gaben einen milden Schein, wie nächtlicher
Schnee. Ich witterte alsogleich das warme Le¬
ben, und der abentheuerliche Muth, den ich dem
Gespenste gegenüber empfunden hatte, verwan¬
delt sich in die natürliche Blödigkeit vor dem
lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer
noch zweifelhaft über meine dämonische Erschei¬
nung, und sie rief daher noch einmal: "Wer

klimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom
erſten Mondſtrahle beſtreift wurde. Ich ſah, wie
ſie entſetzt ihr gluͤhendes Auge auf mich richtete
und, doch lautlos, zuſammenfuhr. Einen leiſen
Schritt trat ich naͤher und hielt wieder ein;
meine Augen waren weit geoͤffnet, ich hielt die
Haͤnde zitternd erhoben, indeß ich, von einem
frohen Feuer des Muthes durchſtroͤmt, auf das
Phantom losging. Da rief es mit gebieteriſcher
Stimme: Halt! kleines Ding! was biſt Du?
und ſtreckte drohend den Arm gegen mich aus,
daß ich feſt auf der Stelle gebannt blieb. Wir
ſahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre
Zuͤge wohl, ſie hatte ein weißes Nachtkleid um¬
geſchlagen, Hals und Schultern waren entbloͤßt
und gaben einen milden Schein, wie naͤchtlicher
Schnee. Ich witterte alſogleich das warme Le¬
ben, und der abentheuerliche Muth, den ich dem
Geſpenſte gegenuͤber empfunden hatte, verwan¬
delt ſich in die natuͤrliche Bloͤdigkeit vor dem
lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer
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[277/0291] klimmend, in meiner befremdlichen Tracht vom erſten Mondſtrahle beſtreift wurde. Ich ſah, wie ſie entſetzt ihr gluͤhendes Auge auf mich richtete und, doch lautlos, zuſammenfuhr. Einen leiſen Schritt trat ich naͤher und hielt wieder ein; meine Augen waren weit geoͤffnet, ich hielt die Haͤnde zitternd erhoben, indeß ich, von einem frohen Feuer des Muthes durchſtroͤmt, auf das Phantom losging. Da rief es mit gebieteriſcher Stimme: Halt! kleines Ding! was biſt Du? und ſtreckte drohend den Arm gegen mich aus, daß ich feſt auf der Stelle gebannt blieb. Wir ſahen uns unverwandt an; ich erkannte jetzt ihre Zuͤge wohl, ſie hatte ein weißes Nachtkleid um¬ geſchlagen, Hals und Schultern waren entbloͤßt und gaben einen milden Schein, wie naͤchtlicher Schnee. Ich witterte alſogleich das warme Le¬ ben, und der abentheuerliche Muth, den ich dem Geſpenſte gegenuͤber empfunden hatte, verwan¬ delt ſich in die natuͤrliche Bloͤdigkeit vor dem lebendigen Weibe. Sie hingegen war immer noch zweifelhaft uͤber meine daͤmoniſche Erſchei¬ nung, und ſie rief daher noch einmal: »Wer

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/291>, abgerufen am 21.11.2024.