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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Gesellschaft fortgereist sei, bemächtigte sich meiner
eine tiefe Traurigkeit, welche längere Zeit anhielt.
Je unbekannter mir die Gegend war, wo sie
hingezogen sein mochte, desto mehr war mir al¬
les Land, welches jenseits der Berge lag, ein
Land unbestimmter Wünsche und dunklen Ver¬
langens, und diesen Zug empfinde ich seither im¬
mer, wenn Jemand, den ich gern habe, die Ge¬
gend verläßt, wo ich lebe.

Um diese Zeit schloß ich mich enger an einen
Knaben, dessen erwachsene, lesebegierige Schwe¬
stern eine Unzahl schlechter Romane zusammenge¬
tragen hatten. Verloren gegangene Bände aus
Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen
Häusern oder von Trödlern um wenige Pfennige
erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute
auf Gesimsen, Bänken und Tischen umher, und
an Sonntagen konnte man nicht nur die Ge¬
schwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und
Mutter und wer sonst noch da war, in die
Lektüre dieser schmutzig aussehenden Bücher ver¬
tieft finden. Die Alten waren thörichte Leute,
welche in dieser Unterhaltung Stoff zu thörichten

Geſellſchaft fortgereiſt ſei, bemaͤchtigte ſich meiner
eine tiefe Traurigkeit, welche laͤngere Zeit anhielt.
Je unbekannter mir die Gegend war, wo ſie
hingezogen ſein mochte, deſto mehr war mir al¬
les Land, welches jenſeits der Berge lag, ein
Land unbeſtimmter Wuͤnſche und dunklen Ver¬
langens, und dieſen Zug empfinde ich ſeither im¬
mer, wenn Jemand, den ich gern habe, die Ge¬
gend verlaͤßt, wo ich lebe.

Um dieſe Zeit ſchloß ich mich enger an einen
Knaben, deſſen erwachſene, leſebegierige Schwe¬
ſtern eine Unzahl ſchlechter Romane zuſammenge¬
tragen hatten. Verloren gegangene Baͤnde aus
Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen
Haͤuſern oder von Troͤdlern um wenige Pfennige
erſtanden, lagen in der Wohnung dieſer Leute
auf Geſimſen, Baͤnken und Tiſchen umher, und
an Sonntagen konnte man nicht nur die Ge¬
ſchwiſter und ihre Liebhaber, ſondern Vater und
Mutter und wer ſonſt noch da war, in die
Lektuͤre dieſer ſchmutzig ausſehenden Buͤcher ver¬
tieft finden. Die Alten waren thoͤrichte Leute,
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[282/0296] Geſellſchaft fortgereiſt ſei, bemaͤchtigte ſich meiner eine tiefe Traurigkeit, welche laͤngere Zeit anhielt. Je unbekannter mir die Gegend war, wo ſie hingezogen ſein mochte, deſto mehr war mir al¬ les Land, welches jenſeits der Berge lag, ein Land unbeſtimmter Wuͤnſche und dunklen Ver¬ langens, und dieſen Zug empfinde ich ſeither im¬ mer, wenn Jemand, den ich gern habe, die Ge¬ gend verlaͤßt, wo ich lebe. Um dieſe Zeit ſchloß ich mich enger an einen Knaben, deſſen erwachſene, leſebegierige Schwe¬ ſtern eine Unzahl ſchlechter Romane zuſammenge¬ tragen hatten. Verloren gegangene Baͤnde aus Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen Haͤuſern oder von Troͤdlern um wenige Pfennige erſtanden, lagen in der Wohnung dieſer Leute auf Geſimſen, Baͤnken und Tiſchen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die Ge¬ ſchwiſter und ihre Liebhaber, ſondern Vater und Mutter und wer ſonſt noch da war, in die Lektuͤre dieſer ſchmutzig ausſehenden Buͤcher ver¬ tieft finden. Die Alten waren thoͤrichte Leute, welche in dieſer Unterhaltung Stoff zu thoͤrichten

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/296>, abgerufen am 21.11.2024.