Auf Spaziergängen reizte er mich stets, seine Ge¬ schicklichkeit auf die Probe zu stellen. "Soll ich mit diesem Steinchen jenes dürre Blatt treffen?" sagte er, und ich erwiederte: "das kannst Du nicht!" "Willst Du mir einen Kreuzer schuldig sein, wenn ich es thue?" "Ja" und er traf es und erschwerte unter den gleichen Bedingungen die Aufgabe manchmal zwölfmal hinter einander, ohne sie je zu verfehlen. Dann schrieb er den Betrag genau in sein Buch mit allerliebsten wohl¬ gestalteten Zahlen, was mir solches Vergnügen gewährte, daß ich laut auflachte. Er aber sagte ernsthaft, da sei gar nichts zu lachen, ich sollte bedenken, daß ich Alles einmal berichtigen müßte und daß sein Büchlein eine ordentliche Bedeutung und Gültigkeit hätte vor jedem Geschäftsmann! Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen Wetten, ob z. B. ein Vogel sich auf diesen oder jenen Pfahl setzen, ob ein vom Winde bewegter Baum sich das nächste Mal so oder so tief nieder¬ beugen, ob am Gestade des See's mit dem fünf¬ ten oder sechsten Wellenschlage eine große Welle ankommen würde. Wenn bei diesem Spiele der
Auf Spaziergaͤngen reizte er mich ſtets, ſeine Ge¬ ſchicklichkeit auf die Probe zu ſtellen. »Soll ich mit dieſem Steinchen jenes duͤrre Blatt treffen?« ſagte er, und ich erwiederte: »das kannſt Du nicht!« »Willſt Du mir einen Kreuzer ſchuldig ſein, wenn ich es thue?« »Ja« und er traf es und erſchwerte unter den gleichen Bedingungen die Aufgabe manchmal zwoͤlfmal hinter einander, ohne ſie je zu verfehlen. Dann ſchrieb er den Betrag genau in ſein Buch mit allerliebſten wohl¬ geſtalteten Zahlen, was mir ſolches Vergnuͤgen gewaͤhrte, daß ich laut auflachte. Er aber ſagte ernſthaft, da ſei gar nichts zu lachen, ich ſollte bedenken, daß ich Alles einmal berichtigen muͤßte und daß ſein Buͤchlein eine ordentliche Bedeutung und Guͤltigkeit haͤtte vor jedem Geſchaͤftsmann! Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen Wetten, ob z. B. ein Vogel ſich auf dieſen oder jenen Pfahl ſetzen, ob ein vom Winde bewegter Baum ſich das naͤchſte Mal ſo oder ſo tief nieder¬ beugen, ob am Geſtade des See's mit dem fuͤnf¬ ten oder ſechſten Wellenſchlage eine große Welle ankommen wuͤrde. Wenn bei dieſem Spiele der
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Auf Spaziergaͤngen reizte er mich ſtets, ſeine Ge¬
ſchicklichkeit auf die Probe zu ſtellen. »Soll ich
mit dieſem Steinchen jenes duͤrre Blatt treffen?«
ſagte er, und ich erwiederte: »das kannſt Du
nicht!« »Willſt Du mir einen Kreuzer ſchuldig
ſein, wenn ich es thue?« »Ja« und er traf es
und erſchwerte unter den gleichen Bedingungen
die Aufgabe manchmal zwoͤlfmal hinter einander,
ohne ſie je zu verfehlen. Dann ſchrieb er den
Betrag genau in ſein Buch mit allerliebſten wohl¬
geſtalteten Zahlen, was mir ſolches Vergnuͤgen
gewaͤhrte, daß ich laut auflachte. Er aber ſagte
ernſthaft, da ſei gar nichts zu lachen, ich ſollte
bedenken, daß ich Alles einmal berichtigen muͤßte
und daß ſein Buͤchlein eine ordentliche Bedeutung
und Guͤltigkeit haͤtte vor jedem Geſchaͤftsmann!
Dann veranlaßte er mich wieder zu zahlreichen
Wetten, ob z. B. ein Vogel ſich auf dieſen oder
jenen Pfahl ſetzen, ob ein vom Winde bewegter
Baum ſich das naͤchſte Mal ſo oder ſo tief nieder¬
beugen, ob am Geſtade des See's mit dem fuͤnf¬
ten oder ſechſten Wellenſchlage eine große Welle
ankommen wuͤrde. Wenn bei dieſem Spiele der
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/342>, abgerufen am 22.11.2024.
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