geöffnete Kästchen, auf dessen Boden zwei oder drei Silberstücke lagen.
Sie richtete einen strengen und bekümmerten Blick auf mich und sagte dann: "Schau einmal in dies Kästchen!" Ich that es mit einem halben Blicke, der mich seit langer Zeit zum ersten Male wieder den wohlbekannten inneren Raum der ge¬ plünderten Lade sehen ließ. Er gähnte mir vor¬ wurfsvoll entgegen. "Es ist also wahr," fuhr die Mutter fort, "was ich habe hören müssen, und was sich nun bestätigt, daß sich mein guter und sorgloser Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu besitzen, so grausam getäuscht sieht?" Ich stand sprachlos da und sah in eine Ecke, das Gefühl des Unglückes und der Vernichtung kreis'te in meinem Inneren so stark und gewaltig, als es nur immer im langen und vielfältigen Menschen¬ leben vorkommen kann; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Ver¬ söhnung und Befreiung. Der offene Blick mei¬ ner Mutter auf meine unverhüllte Lage fing an den Alp zu bannen, der mich bisher gedrückt hatte, ihr strenges Auge war mir wohlthätig und
geoͤffnete Kaͤſtchen, auf deſſen Boden zwei oder drei Silberſtuͤcke lagen.
Sie richtete einen ſtrengen und bekuͤmmerten Blick auf mich und ſagte dann: »Schau einmal in dies Kaͤſtchen!« Ich that es mit einem halben Blicke, der mich ſeit langer Zeit zum erſten Male wieder den wohlbekannten inneren Raum der ge¬ pluͤnderten Lade ſehen ließ. Er gaͤhnte mir vor¬ wurfsvoll entgegen. »Es iſt alſo wahr,« fuhr die Mutter fort, »was ich habe hoͤren muͤſſen, und was ſich nun beſtaͤtigt, daß ſich mein guter und ſorgloſer Glaube, ein braves und gutartiges Kind zu beſitzen, ſo grauſam getaͤuſcht ſieht?« Ich ſtand ſprachlos da und ſah in eine Ecke, das Gefuͤhl des Ungluͤckes und der Vernichtung kreiſ'te in meinem Inneren ſo ſtark und gewaltig, als es nur immer im langen und vielfaͤltigen Menſchen¬ leben vorkommen kann; aber durch die dunkle Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Ver¬ ſoͤhnung und Befreiung. Der offene Blick mei¬ ner Mutter auf meine unverhuͤllte Lage fing an den Alp zu bannen, der mich bisher gedruͤckt hatte, ihr ſtrenges Auge war mir wohlthaͤtig und
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geoͤffnete Kaͤſtchen, auf deſſen Boden zwei oder
drei Silberſtuͤcke lagen.
Sie richtete einen ſtrengen und bekuͤmmerten
Blick auf mich und ſagte dann: »Schau einmal
in dies Kaͤſtchen!« Ich that es mit einem halben
Blicke, der mich ſeit langer Zeit zum erſten Male
wieder den wohlbekannten inneren Raum der ge¬
pluͤnderten Lade ſehen ließ. Er gaͤhnte mir vor¬
wurfsvoll entgegen. »Es iſt alſo wahr,« fuhr die
Mutter fort, »was ich habe hoͤren muͤſſen, und
was ſich nun beſtaͤtigt, daß ſich mein guter und
ſorgloſer Glaube, ein braves und gutartiges Kind
zu beſitzen, ſo grauſam getaͤuſcht ſieht?« Ich ſtand
ſprachlos da und ſah in eine Ecke, das Gefuͤhl
des Ungluͤckes und der Vernichtung kreiſ'te in
meinem Inneren ſo ſtark und gewaltig, als es
nur immer im langen und vielfaͤltigen Menſchen¬
leben vorkommen kann; aber durch die dunkle
Wolke blitzte bereits ein lieblicher Funke der Ver¬
ſoͤhnung und Befreiung. Der offene Blick mei¬
ner Mutter auf meine unverhuͤllte Lage fing an
den Alp zu bannen, der mich bisher gedruͤckt
hatte, ihr ſtrenges Auge war mir wohlthaͤtig und
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/346>, abgerufen am 22.11.2024.
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