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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fen¬
stern oder auf Gerüsten stehen. Er war seit der
Kinderzeit fast gar nicht mehr gewachsen und sah
in seiner Emsigkeit, an den ungeheuerlichen
Mauern hängend, höchst seltsam aus; ich mußte
unwillkürlich lachen und hätte fast einem freund¬
licheren Gefühle Raum gegeben, da er in diesem
Wesen doch liebenswürdig und tüchtig erschien,
wenn er nicht einst die Gelegenheit wahrgenom¬
men hätte, einen ansehnlichen Pinsel voll Kalk¬
wasser auf mich herunterzuspritzen.

Eines Tages, als ich des Hauses bereits
ansichtig war, führte mich mein milder Stern
durch eine Seitenstraße einen andern Weg; als
ich einige Minuten später wieder in die Haupt¬
straße einbog, sah ich viele erschreckte Leute aus
der Gegend jenes Hauses herkommen, welche
eifrig sprachen und lamentirten. Um die Weg¬
nahme einer alten Windfahne auf dem Thurme
zu bewerkstelligen, hatten die Bauleute erklärt,
ein erhebliches Gerüste anbringen zu müssen. Der
Unglückliche, der sich Alles zutraute, wollte die
Kosten sparen und während der Mittagsstunde

Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fen¬
ſtern oder auf Geruͤſten ſtehen. Er war ſeit der
Kinderzeit faſt gar nicht mehr gewachſen und ſah
in ſeiner Emſigkeit, an den ungeheuerlichen
Mauern haͤngend, hoͤchſt ſeltſam aus; ich mußte
unwillkuͤrlich lachen und haͤtte faſt einem freund¬
licheren Gefuͤhle Raum gegeben, da er in dieſem
Weſen doch liebenswuͤrdig und tuͤchtig erſchien,
wenn er nicht einſt die Gelegenheit wahrgenom¬
men haͤtte, einen anſehnlichen Pinſel voll Kalk¬
waſſer auf mich herunterzuſpritzen.

Eines Tages, als ich des Hauſes bereits
anſichtig war, fuͤhrte mich mein milder Stern
durch eine Seitenſtraße einen andern Weg; als
ich einige Minuten ſpaͤter wieder in die Haupt¬
ſtraße einbog, ſah ich viele erſchreckte Leute aus
der Gegend jenes Hauſes herkommen, welche
eifrig ſprachen und lamentirten. Um die Weg¬
nahme einer alten Windfahne auf dem Thurme
zu bewerkſtelligen, hatten die Bauleute erklaͤrt,
ein erhebliches Geruͤſte anbringen zu muͤſſen. Der
Ungluͤckliche, der ſich Alles zutraute, wollte die
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[352/0366] Farbentopfe oder mit einem Hammer unter Fen¬ ſtern oder auf Geruͤſten ſtehen. Er war ſeit der Kinderzeit faſt gar nicht mehr gewachſen und ſah in ſeiner Emſigkeit, an den ungeheuerlichen Mauern haͤngend, hoͤchſt ſeltſam aus; ich mußte unwillkuͤrlich lachen und haͤtte faſt einem freund¬ licheren Gefuͤhle Raum gegeben, da er in dieſem Weſen doch liebenswuͤrdig und tuͤchtig erſchien, wenn er nicht einſt die Gelegenheit wahrgenom¬ men haͤtte, einen anſehnlichen Pinſel voll Kalk¬ waſſer auf mich herunterzuſpritzen. Eines Tages, als ich des Hauſes bereits anſichtig war, fuͤhrte mich mein milder Stern durch eine Seitenſtraße einen andern Weg; als ich einige Minuten ſpaͤter wieder in die Haupt¬ ſtraße einbog, ſah ich viele erſchreckte Leute aus der Gegend jenes Hauſes herkommen, welche eifrig ſprachen und lamentirten. Um die Weg¬ nahme einer alten Windfahne auf dem Thurme zu bewerkſtelligen, hatten die Bauleute erklaͤrt, ein erhebliches Geruͤſte anbringen zu muͤſſen. Der Ungluͤckliche, der ſich Alles zutraute, wollte die Koſten ſparen und waͤhrend der Mittagsſtunde

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/366>, abgerufen am 22.11.2024.