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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte sich
auf das steile hohe Dach hinausbegeben, stürzte
herab und lag in diesem Augenblicke zerschmettert
und todt auf dem Pflaster.

Es durchfuhr mich, als ich die Kunde ver¬
nommen und schnell meines Weges weiter ging,
wohl ein Grauen, verursacht durch den Fall, wie
er war; aber ich mag mich durchwühlen, wie ich
will, ich kann mich auf keine Spur von Erbar¬
men oder Reue entsinnen, die mich durchzuckt
hätte. Meine Gedanken waren und blieben ernst
und dunkel, aber das innerste Herz, das sich nicht
gebieten läßt, lachte auf und war froh. Wenn
ich ihn leiden gesehen oder seinen Leichnam ge¬
schaut, so glaube ich zuversichtlich, daß mich Mit¬
leid und Reue ergriffen hätten; doch das unsicht¬
bare Wort, mein Feind sei mit einem Schlage
nicht mehr, gab mir nur Versöhnung, aber die
Versöhnung der Befriedigung und nicht des
Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich
konstruirte zwar, als ich mich besonnen, rasch ein
künstliches und verworrenes Gebet, worin ich
Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergessen¬

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die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte ſich
auf das ſteile hohe Dach hinausbegeben, ſtuͤrzte
herab und lag in dieſem Augenblicke zerſchmettert
und todt auf dem Pflaſter.

Es durchfuhr mich, als ich die Kunde ver¬
nommen und ſchnell meines Weges weiter ging,
wohl ein Grauen, verurſacht durch den Fall, wie
er war; aber ich mag mich durchwuͤhlen, wie ich
will, ich kann mich auf keine Spur von Erbar¬
men oder Reue entſinnen, die mich durchzuckt
haͤtte. Meine Gedanken waren und blieben ernſt
und dunkel, aber das innerſte Herz, das ſich nicht
gebieten laͤßt, lachte auf und war froh. Wenn
ich ihn leiden geſehen oder ſeinen Leichnam ge¬
ſchaut, ſo glaube ich zuverſichtlich, daß mich Mit¬
leid und Reue ergriffen haͤtten; doch das unſicht¬
bare Wort, mein Feind ſei mit einem Schlage
nicht mehr, gab mir nur Verſoͤhnung, aber die
Verſoͤhnung der Befriedigung und nicht des
Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich
konſtruirte zwar, als ich mich beſonnen, raſch ein
kuͤnſtliches und verworrenes Gebet, worin ich
Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergeſſen¬

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[353/0367] die Fahne in aller Stille abnehmen, hatte ſich auf das ſteile hohe Dach hinausbegeben, ſtuͤrzte herab und lag in dieſem Augenblicke zerſchmettert und todt auf dem Pflaſter. Es durchfuhr mich, als ich die Kunde ver¬ nommen und ſchnell meines Weges weiter ging, wohl ein Grauen, verurſacht durch den Fall, wie er war; aber ich mag mich durchwuͤhlen, wie ich will, ich kann mich auf keine Spur von Erbar¬ men oder Reue entſinnen, die mich durchzuckt haͤtte. Meine Gedanken waren und blieben ernſt und dunkel, aber das innerſte Herz, das ſich nicht gebieten laͤßt, lachte auf und war froh. Wenn ich ihn leiden geſehen oder ſeinen Leichnam ge¬ ſchaut, ſo glaube ich zuverſichtlich, daß mich Mit¬ leid und Reue ergriffen haͤtten; doch das unſicht¬ bare Wort, mein Feind ſei mit einem Schlage nicht mehr, gab mir nur Verſoͤhnung, aber die Verſoͤhnung der Befriedigung und nicht des Schmerzes, der Rache und nicht der Liebe. Ich konſtruirte zwar, als ich mich beſonnen, raſch ein kuͤnſtliches und verworrenes Gebet, worin ich Gott um Verzeihung, um Mitleid, um Vergeſſen¬ l. 23

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/367>, abgerufen am 22.11.2024.