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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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nicht nöthig hat; oder es schwebte wie ein Stern
weit vor uns in neutraler Mitte, nach welchem
sich unsere Reden und Beziehungen richteten und
sich dort vereinigten, wie zwei Linien in einem
Punkte, ohne sich vorher unzart zu berühren.
Erst als wir in der Stube waren und ihren sie
erwartenden Vater begrüßt hatten, nannte sie,
die Ereignisse des Abends froh erzählend, beiläu¬
fig ganz unbefangen meinen Namen, so oft es
erforderlich war, und nahm, unter dem Schutze
ihres Vaterhauses, wo sie sich geborgen fühlte,
wie eine Taube im Neste, unbesehens das Wört¬
chen Du hervor und warf es unbekümmert hin,
daß ich es nur aufzunehmen und ebenso arglos
zurückzugeben brauchte. Der Schulmeister machte
mir Vorwürfe über mein langes Ausbleiben, und
um sicher zu gehen, forderte er mich zu dem
Versprechen auf, gleich am nächsten Morgen früh
zu kommen und den ganzen Tag an seinem See
zuzubringen. Anna übergab mir den Shawl,
den ich wieder zurücktragen sollte, dann leuchtete
sie mir vor das Haus und sagte Adieu mit jenem
angenehmen Tone, der ein anderer ist nach einer

nicht noͤthig hat; oder es ſchwebte wie ein Stern
weit vor uns in neutraler Mitte, nach welchem
ſich unſere Reden und Beziehungen richteten und
ſich dort vereinigten, wie zwei Linien in einem
Punkte, ohne ſich vorher unzart zu beruͤhren.
Erſt als wir in der Stube waren und ihren ſie
erwartenden Vater begruͤßt hatten, nannte ſie,
die Ereigniſſe des Abends froh erzaͤhlend, beilaͤu¬
fig ganz unbefangen meinen Namen, ſo oft es
erforderlich war, und nahm, unter dem Schutze
ihres Vaterhauſes, wo ſie ſich geborgen fuͤhlte,
wie eine Taube im Neſte, unbeſehens das Woͤrt¬
chen Du hervor und warf es unbekuͤmmert hin,
daß ich es nur aufzunehmen und ebenſo arglos
zuruͤckzugeben brauchte. Der Schulmeiſter machte
mir Vorwuͤrfe uͤber mein langes Ausbleiben, und
um ſicher zu gehen, forderte er mich zu dem
Verſprechen auf, gleich am naͤchſten Morgen fruͤh
zu kommen und den ganzen Tag an ſeinem See
zuzubringen. Anna uͤbergab mir den Shawl,
den ich wieder zuruͤcktragen ſollte, dann leuchtete
ſie mir vor das Haus und ſagte Adieu mit jenem
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[106/0116] nicht noͤthig hat; oder es ſchwebte wie ein Stern weit vor uns in neutraler Mitte, nach welchem ſich unſere Reden und Beziehungen richteten und ſich dort vereinigten, wie zwei Linien in einem Punkte, ohne ſich vorher unzart zu beruͤhren. Erſt als wir in der Stube waren und ihren ſie erwartenden Vater begruͤßt hatten, nannte ſie, die Ereigniſſe des Abends froh erzaͤhlend, beilaͤu¬ fig ganz unbefangen meinen Namen, ſo oft es erforderlich war, und nahm, unter dem Schutze ihres Vaterhauſes, wo ſie ſich geborgen fuͤhlte, wie eine Taube im Neſte, unbeſehens das Woͤrt¬ chen Du hervor und warf es unbekuͤmmert hin, daß ich es nur aufzunehmen und ebenſo arglos zuruͤckzugeben brauchte. Der Schulmeiſter machte mir Vorwuͤrfe uͤber mein langes Ausbleiben, und um ſicher zu gehen, forderte er mich zu dem Verſprechen auf, gleich am naͤchſten Morgen fruͤh zu kommen und den ganzen Tag an ſeinem See zuzubringen. Anna uͤbergab mir den Shawl, den ich wieder zuruͤcktragen ſollte, dann leuchtete ſie mir vor das Haus und ſagte Adieu mit jenem angenehmen Tone, der ein anderer iſt nach einer

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/116>, abgerufen am 23.11.2024.