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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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behangen. Ihre Steile verkündete, wie tief hier
das kleine Gewässer sein müsse, und ihre Höhe
betrug diejenige einer großen Kirche. An der
Mitte derselben war eine Vertiefung sichtbar, die
in den Stein hineinging und zu welcher man
durchaus keinen Zugang entdeckte. Es sah aus
wie ein recht breites Fenster an einem Thurme.
Anna erzählte, daß diese Höhle die Heidenstube
genannt würde. "Als das Christenthum in das
Land drang," sagte sie, "da mußten sich die
Heiden verbergen, welche nicht getauft sein
wollten. Eine ganze Haushaltung mit vielen
Kindern flüchtete sich in das Loch dort oben,
man weiß gar nicht auf welche Weise. Und man
konnte nicht zu ihnen gelangen, aber sie fanden
den Weg auch nicht mehr heraus. Sie hausten
und kochten eine Zeitlang und ein Kindlein nach
dem andern fiel ihnen über die Wand herunter
in's Wasser hier und ertrank. Zuletzt waren nur
noch Vater und Mutter übrig und hatten nichts
mehr zu essen und nichts zu trinken, und zeigten
sich als zwei Jammergerippe am Eingange und
starrten auf das Grab ihrer Kinder, zuletzt fielen

behangen. Ihre Steile verkuͤndete, wie tief hier
das kleine Gewaͤſſer ſein muͤſſe, und ihre Hoͤhe
betrug diejenige einer großen Kirche. An der
Mitte derſelben war eine Vertiefung ſichtbar, die
in den Stein hineinging und zu welcher man
durchaus keinen Zugang entdeckte. Es ſah aus
wie ein recht breites Fenſter an einem Thurme.
Anna erzaͤhlte, daß dieſe Hoͤhle die Heidenſtube
genannt wuͤrde. »Als das Chriſtenthum in das
Land drang,« ſagte ſie, »da mußten ſich die
Heiden verbergen, welche nicht getauft ſein
wollten. Eine ganze Haushaltung mit vielen
Kindern fluͤchtete ſich in das Loch dort oben,
man weiß gar nicht auf welche Weiſe. Und man
konnte nicht zu ihnen gelangen, aber ſie fanden
den Weg auch nicht mehr heraus. Sie hauſten
und kochten eine Zeitlang und ein Kindlein nach
dem andern fiel ihnen uͤber die Wand herunter
in's Waſſer hier und ertrank. Zuletzt waren nur
noch Vater und Mutter uͤbrig und hatten nichts
mehr zu eſſen und nichts zu trinken, und zeigten
ſich als zwei Jammergerippe am Eingange und
ſtarrten auf das Grab ihrer Kinder, zuletzt fielen

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[123/0133] behangen. Ihre Steile verkuͤndete, wie tief hier das kleine Gewaͤſſer ſein muͤſſe, und ihre Hoͤhe betrug diejenige einer großen Kirche. An der Mitte derſelben war eine Vertiefung ſichtbar, die in den Stein hineinging und zu welcher man durchaus keinen Zugang entdeckte. Es ſah aus wie ein recht breites Fenſter an einem Thurme. Anna erzaͤhlte, daß dieſe Hoͤhle die Heidenſtube genannt wuͤrde. »Als das Chriſtenthum in das Land drang,« ſagte ſie, »da mußten ſich die Heiden verbergen, welche nicht getauft ſein wollten. Eine ganze Haushaltung mit vielen Kindern fluͤchtete ſich in das Loch dort oben, man weiß gar nicht auf welche Weiſe. Und man konnte nicht zu ihnen gelangen, aber ſie fanden den Weg auch nicht mehr heraus. Sie hauſten und kochten eine Zeitlang und ein Kindlein nach dem andern fiel ihnen uͤber die Wand herunter in's Waſſer hier und ertrank. Zuletzt waren nur noch Vater und Mutter uͤbrig und hatten nichts mehr zu eſſen und nichts zu trinken, und zeigten ſich als zwei Jammergerippe am Eingange und ſtarrten auf das Grab ihrer Kinder, zuletzt fielen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/133>, abgerufen am 23.11.2024.