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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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dächtnisse Anna's, die Gräser schienen nichts von
ihr zu wissen, die Blumen flüsterten nicht ihren
Namen, Berg und Thal schwiegen von ihr, nur
mein Herz tönte ihn laut hinaus in die undank¬
bare Stille.

Endlich wurde ich gefragt, warum ich den
Schulmeister nicht besuche? und da ergab es sich
zufällig, daß Anna schon seit einem halben Jahre
nicht mehr im Lande sei und daß man meine
Kunde hierüber vorausgesetzt habe. Ihr Vater
hatte, in seiner steten Sehnsucht nach Bildung
und Feinheit der Seele und in Betracht, daß
nach seinem Tode sein Kind, das einmal für eine
Bäuerin zu zart sei, verlassen in der rauhen
dörflichen Umgebung bleiben würde, sich plötzlich
entschlossen, Anna in eine Bildungsanstalt der
französischen Schweiz zu bringen, wo sie sich
feinere Kenntnisse und Selbstständigkeit des Gei¬
stes erwerben sollte. Er ließ sich, als sie ihre
Abneigung dagegen aussprach, durch ihre Thrä¬
nen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung
seiner Wünsche bedacht, und begleitete das ungern
scheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm¬

daͤchtniſſe Anna's, die Graͤſer ſchienen nichts von
ihr zu wiſſen, die Blumen fluͤſterten nicht ihren
Namen, Berg und Thal ſchwiegen von ihr, nur
mein Herz toͤnte ihn laut hinaus in die undank¬
bare Stille.

Endlich wurde ich gefragt, warum ich den
Schulmeiſter nicht beſuche? und da ergab es ſich
zufaͤllig, daß Anna ſchon ſeit einem halben Jahre
nicht mehr im Lande ſei und daß man meine
Kunde hieruͤber vorausgeſetzt habe. Ihr Vater
hatte, in ſeiner ſteten Sehnſucht nach Bildung
und Feinheit der Seele und in Betracht, daß
nach ſeinem Tode ſein Kind, das einmal fuͤr eine
Baͤuerin zu zart ſei, verlaſſen in der rauhen
doͤrflichen Umgebung bleiben wuͤrde, ſich ploͤtzlich
entſchloſſen, Anna in eine Bildungsanſtalt der
franzoͤſiſchen Schweiz zu bringen, wo ſie ſich
feinere Kenntniſſe und Selbſtſtaͤndigkeit des Gei¬
ſtes erwerben ſollte. Er ließ ſich, als ſie ihre
Abneigung dagegen ausſprach, durch ihre Thraͤ¬
nen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung
ſeiner Wuͤnſche bedacht, und begleitete das ungern
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[191/0201] daͤchtniſſe Anna's, die Graͤſer ſchienen nichts von ihr zu wiſſen, die Blumen fluͤſterten nicht ihren Namen, Berg und Thal ſchwiegen von ihr, nur mein Herz toͤnte ihn laut hinaus in die undank¬ bare Stille. Endlich wurde ich gefragt, warum ich den Schulmeiſter nicht beſuche? und da ergab es ſich zufaͤllig, daß Anna ſchon ſeit einem halben Jahre nicht mehr im Lande ſei und daß man meine Kunde hieruͤber vorausgeſetzt habe. Ihr Vater hatte, in ſeiner ſteten Sehnſucht nach Bildung und Feinheit der Seele und in Betracht, daß nach ſeinem Tode ſein Kind, das einmal fuͤr eine Baͤuerin zu zart ſei, verlaſſen in der rauhen doͤrflichen Umgebung bleiben wuͤrde, ſich ploͤtzlich entſchloſſen, Anna in eine Bildungsanſtalt der franzoͤſiſchen Schweiz zu bringen, wo ſie ſich feinere Kenntniſſe und Selbſtſtaͤndigkeit des Gei¬ ſtes erwerben ſollte. Er ließ ſich, als ſie ihre Abneigung dagegen ausſprach, durch ihre Thraͤ¬ nen nicht erweichen, allein auf die Befriedigung ſeiner Wuͤnſche bedacht, und begleitete das ungern ſcheidende Kind in das Haus des fernen, vornehm¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/201>, abgerufen am 24.11.2024.