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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854.

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licher Kirche reizte meine kritische Laune; zweitens
wollte ich den frommen Kirchgänger für seine
gemüthliche Anmaßung bestrafen, und drittens
that ich dieses nur in dem Bewußtsein, daß der
Abgewiesene alsobald wieder und für immer sei¬
nen gewohnten Platz einnehmen könne, und dieser
Gedanke machte mir das größte Vergnügen. Als
ich ihn meinerseits auch belehrt und ihn ganz ver¬
blüfft und traurig eine entfernte Stelle unter den
unstät herumwandernden Besitzlosen aufsuchen sah,
nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeu¬
ten, daß er sich immerhin meines Stuhles bedienen
solle, indem ich denselben nicht brauche. Ein Mal
aber wollte ich darin sitzen und stehen, wie es mein
Vater gethan. Derselbe besuchte an allen Festtagen
die Kirche, denn alle hohen Feste erfüllten ihn mit
heiterer Freude und tapferem Muthe, indem er den
großen und guten Geist, welchen er in aller Welt
und Natur sich erfüllen sah, alsdann besonders
fühlte und verehrte. Weihnachten, Ostern, Himmel¬
fahrt und Pfingsten waren ihm die herrlichsten
Freudentage, an welchen es mit edlen Betrach¬
tungen, Kirchenbesuch, duftendem Mittagsmahl

licher Kirche reizte meine kritiſche Laune; zweitens
wollte ich den frommen Kirchgaͤnger fuͤr ſeine
gemuͤthliche Anmaßung beſtrafen, und drittens
that ich dieſes nur in dem Bewußtſein, daß der
Abgewieſene alſobald wieder und fuͤr immer ſei¬
nen gewohnten Platz einnehmen koͤnne, und dieſer
Gedanke machte mir das groͤßte Vergnuͤgen. Als
ich ihn meinerſeits auch belehrt und ihn ganz ver¬
bluͤfft und traurig eine entfernte Stelle unter den
unſtaͤt herumwandernden Beſitzloſen aufſuchen ſah,
nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeu¬
ten, daß er ſich immerhin meines Stuhles bedienen
ſolle, indem ich denſelben nicht brauche. Ein Mal
aber wollte ich darin ſitzen und ſtehen, wie es mein
Vater gethan. Derſelbe beſuchte an allen Feſttagen
die Kirche, denn alle hohen Feſte erfuͤllten ihn mit
heiterer Freude und tapferem Muthe, indem er den
großen und guten Geiſt, welchen er in aller Welt
und Natur ſich erfuͤllen ſah, alsdann beſonders
fuͤhlte und verehrte. Weihnachten, Oſtern, Himmel¬
fahrt und Pfingſten waren ihm die herrlichſten
Freudentage, an welchen es mit edlen Betrach¬
tungen, Kirchenbeſuch, duftendem Mittagsmahl

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[327/0337] licher Kirche reizte meine kritiſche Laune; zweitens wollte ich den frommen Kirchgaͤnger fuͤr ſeine gemuͤthliche Anmaßung beſtrafen, und drittens that ich dieſes nur in dem Bewußtſein, daß der Abgewieſene alſobald wieder und fuͤr immer ſei¬ nen gewohnten Platz einnehmen koͤnne, und dieſer Gedanke machte mir das groͤßte Vergnuͤgen. Als ich ihn meinerſeits auch belehrt und ihn ganz ver¬ bluͤfft und traurig eine entfernte Stelle unter den unſtaͤt herumwandernden Beſitzloſen aufſuchen ſah, nahm ich mir vor, ihm am anderen Tage anzudeu¬ ten, daß er ſich immerhin meines Stuhles bedienen ſolle, indem ich denſelben nicht brauche. Ein Mal aber wollte ich darin ſitzen und ſtehen, wie es mein Vater gethan. Derſelbe beſuchte an allen Feſttagen die Kirche, denn alle hohen Feſte erfuͤllten ihn mit heiterer Freude und tapferem Muthe, indem er den großen und guten Geiſt, welchen er in aller Welt und Natur ſich erfuͤllen ſah, alsdann beſonders fuͤhlte und verehrte. Weihnachten, Oſtern, Himmel¬ fahrt und Pfingſten waren ihm die herrlichſten Freudentage, an welchen es mit edlen Betrach¬ tungen, Kirchenbeſuch, duftendem Mittagsmahl

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/337>, abgerufen am 27.11.2024.