daher mild und versöhnlich gesinnt und ging zur Kirche, wie man zum letzten Mal in eine Gesellschaft geht, mit welcher man nichts gemein hat, daher der Abschied aufgeweckt und höflich ist. In der Kirche angekommen, durften wir uns un¬ ter die älteren Leute mischen und Jeder seinen Platz nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum ersten und letzten Male in dem Männerstuhle Platz, welcher zu unserem Hause gehörte und dessen Nummer mir die Mutter in ihrem häus¬ lichen Sinne sorglich eingeprägt hatte. Er war seit dem Tode des Vaters, also viele Jahre, leer geblieben oder vielmehr hatte sich ein armes Männchen, das sich keines Grundbesitzes erfreute, darin angesiedelt. Als er heran kam und mich an dem Orte vorfand, ersuchte er mich mit kirch¬ licher Freundlichkeit, "seinen Ort" räumen zu wol¬ len, und fügte belehrend hinzu, in diesem Re¬ viere seien alles eigenthümliche Orte. Ich hätte als ein grüner Junge füglich dem bejahrten Männ¬ chen Platz machen und mir eine andere Stelle suchen können; allein dieser Geist des Eigenthums und des Wegdrängens mitten im Herzen christ¬
daher mild und verſoͤhnlich geſinnt und ging zur Kirche, wie man zum letzten Mal in eine Geſellſchaft geht, mit welcher man nichts gemein hat, daher der Abſchied aufgeweckt und hoͤflich iſt. In der Kirche angekommen, durften wir uns un¬ ter die aͤlteren Leute miſchen und Jeder ſeinen Platz nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum erſten und letzten Male in dem Maͤnnerſtuhle Platz, welcher zu unſerem Hauſe gehoͤrte und deſſen Nummer mir die Mutter in ihrem haͤus¬ lichen Sinne ſorglich eingepraͤgt hatte. Er war ſeit dem Tode des Vaters, alſo viele Jahre, leer geblieben oder vielmehr hatte ſich ein armes Maͤnnchen, das ſich keines Grundbeſitzes erfreute, darin angeſiedelt. Als er heran kam und mich an dem Orte vorfand, erſuchte er mich mit kirch¬ licher Freundlichkeit, »ſeinen Ort« raͤumen zu wol¬ len, und fuͤgte belehrend hinzu, in dieſem Re¬ viere ſeien alles eigenthuͤmliche Orte. Ich haͤtte als ein gruͤner Junge fuͤglich dem bejahrten Maͤnn¬ chen Platz machen und mir eine andere Stelle ſuchen koͤnnen; allein dieſer Geiſt des Eigenthums und des Wegdraͤngens mitten im Herzen chriſt¬
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daher mild und verſoͤhnlich geſinnt und ging
zur Kirche, wie man zum letzten Mal in eine
Geſellſchaft geht, mit welcher man nichts gemein
hat, daher der Abſchied aufgeweckt und hoͤflich iſt.
In der Kirche angekommen, durften wir uns un¬
ter die aͤlteren Leute miſchen und Jeder ſeinen
Platz nehmen, wo ihm beliebte. Ich nahm zum
erſten und letzten Male in dem Maͤnnerſtuhle
Platz, welcher zu unſerem Hauſe gehoͤrte und
deſſen Nummer mir die Mutter in ihrem haͤus¬
lichen Sinne ſorglich eingepraͤgt hatte. Er war
ſeit dem Tode des Vaters, alſo viele Jahre, leer
geblieben oder vielmehr hatte ſich ein armes
Maͤnnchen, das ſich keines Grundbeſitzes erfreute,
darin angeſiedelt. Als er heran kam und mich
an dem Orte vorfand, erſuchte er mich mit kirch¬
licher Freundlichkeit, »ſeinen Ort« raͤumen zu wol¬
len, und fuͤgte belehrend hinzu, in dieſem Re¬
viere ſeien alles eigenthuͤmliche Orte. Ich haͤtte als
ein gruͤner Junge fuͤglich dem bejahrten Maͤnn¬
chen Platz machen und mir eine andere Stelle
ſuchen koͤnnen; allein dieſer Geiſt des Eigenthums
und des Wegdraͤngens mitten im Herzen chriſt¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/336>, abgerufen am 27.11.2024.
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