Roland zurückgelassen, welchen ich selbst noch nicht näher kannte; Judith hatte aber den Winter über oft darin gelesen und pries mir jetzt das Buch als das allerschönste in der Welt an. Judith zweifelte nicht mehr an Anna's baldigem Tod und sagte mir dies unverholen, obgleich ich es nicht zugeben wollte; durch diesen Gegenstand und meine Berichte von jenem Krankenlager wurden wir trübselig und düster, jedes auf seine Weise, und wenn wir nun im Ariost lasen, so vergaßen wir alle Trübsal und tauchten uns in eine frische glänzende Welt. Judith hatte das Buch erst ganz volks¬ thümlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es war, ohne über seinen Ursprung und seine Be¬ deutung zu grübeln: als wir aber jetzt zusammen darin lasen, verlangte sie Manches zu wissen, und ich mußte ihr, so gut ich konnte, einen Begriff geben von der Entstehungsweise und der Geltung eines solchen Werkes, von dem Wollen und den bewußten Absichten des Dichters, und ich erzählte, so viel ich wußte, von Ariost. Nun wurde sie erst recht fröhlich, nannte ihn einen klugen und weisen Mann und las die Gesänge mit verdop¬
Roland zuruͤckgelaſſen, welchen ich ſelbſt noch nicht naͤher kannte; Judith hatte aber den Winter uͤber oft darin geleſen und pries mir jetzt das Buch als das allerſchoͤnſte in der Welt an. Judith zweifelte nicht mehr an Anna's baldigem Tod und ſagte mir dies unverholen, obgleich ich es nicht zugeben wollte; durch dieſen Gegenſtand und meine Berichte von jenem Krankenlager wurden wir truͤbſelig und duͤſter, jedes auf ſeine Weiſe, und wenn wir nun im Arioſt laſen, ſo vergaßen wir alle Truͤbſal und tauchten uns in eine friſche glaͤnzende Welt. Judith hatte das Buch erſt ganz volks¬ thuͤmlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es war, ohne uͤber ſeinen Urſprung und ſeine Be¬ deutung zu gruͤbeln: als wir aber jetzt zuſammen darin laſen, verlangte ſie Manches zu wiſſen, und ich mußte ihr, ſo gut ich konnte, einen Begriff geben von der Entſtehungsweiſe und der Geltung eines ſolchen Werkes, von dem Wollen und den bewußten Abſichten des Dichters, und ich erzaͤhlte, ſo viel ich wußte, von Arioſt. Nun wurde ſie erſt recht froͤhlich, nannte ihn einen klugen und weiſen Mann und las die Geſaͤnge mit verdop¬
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Roland zuruͤckgelaſſen, welchen ich ſelbſt noch nicht
naͤher kannte; Judith hatte aber den Winter uͤber
oft darin geleſen und pries mir jetzt das Buch
als das allerſchoͤnſte in der Welt an. Judith
zweifelte nicht mehr an Anna's baldigem Tod und
ſagte mir dies unverholen, obgleich ich es nicht
zugeben wollte; durch dieſen Gegenſtand und meine
Berichte von jenem Krankenlager wurden wir
truͤbſelig und duͤſter, jedes auf ſeine Weiſe, und
wenn wir nun im Arioſt laſen, ſo vergaßen wir alle
Truͤbſal und tauchten uns in eine friſche glaͤnzende
Welt. Judith hatte das Buch erſt ganz volks¬
thuͤmlich als etwas Gedrucktes genommen, wie es
war, ohne uͤber ſeinen Urſprung und ſeine Be¬
deutung zu gruͤbeln: als wir aber jetzt zuſammen
darin laſen, verlangte ſie Manches zu wiſſen, und
ich mußte ihr, ſo gut ich konnte, einen Begriff
geben von der Entſtehungsweiſe und der Geltung
eines ſolchen Werkes, von dem Wollen und den
bewußten Abſichten des Dichters, und ich erzaͤhlte,
ſo viel ich wußte, von Arioſt. Nun wurde ſie
erſt recht froͤhlich, nannte ihn einen klugen und
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/132>, abgerufen am 21.11.2024.
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