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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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Kammer, und am Morgen that meine Mutter
die Augen weit auf, als sie mich unerwartet
zum Frühstück erscheinen sah.

Ich bemerkte sogleich, daß in unserer Stube
eine kleine Veränderung vorgegangen war.
Ein artiges Lotterbettchen stand an der Wand,
welches die Mutter aus Gefälligkeit von einem
Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unter¬
zubringen wußte; es war von der größten Ein¬
fachheit, leicht und zierlich gebaut und statt des
Polsters nur mit weiß und grünem Stroh über¬
flochten und doch ein allerliebstes Möbel. Aber
auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher,
an die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden,
mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf
dem Rücken versehen und durch eine starke viel¬
fache Schnur zusammengehalten, wie nur eine
Frau oder ein Trödler etwas zusammenbinden
kann. Es waren Göthe's sämmtliche Werke,
welche einer meiner Plagegeister hergebracht hatte,
um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzu¬
bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der
große Schatten selbst über meine Schwelle ge¬

Kammer, und am Morgen that meine Mutter
die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet
zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah.

Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube
eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war.
Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand,
welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem
Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬
zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬
fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des
Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬
flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber
auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher,
an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden,
mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf
dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬
fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine
Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden
kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke,
welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte,
um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬
bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der
große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬

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[4/0014] Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah. Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war. Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand, welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬ zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬ fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬ flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher, an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬ fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke, welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte, um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬ bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/14>, abgerufen am 04.05.2024.