Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als sie mich unerwartet zum Frühstück erscheinen sah.
Ich bemerkte sogleich, daß in unserer Stube eine kleine Veränderung vorgegangen war. Ein artiges Lotterbettchen stand an der Wand, welches die Mutter aus Gefälligkeit von einem Bekannten gekauft, der dasselbe nicht mehr unter¬ zubringen wußte; es war von der größten Ein¬ fachheit, leicht und zierlich gebaut und statt des Polsters nur mit weiß und grünem Stroh über¬ flochten und doch ein allerliebstes Möbel. Aber auf demselben lag ein ansehnlicher Stoß Bücher, an die fünfzig Bändchen, alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Rücken versehen und durch eine starke viel¬ fache Schnur zusammengehalten, wie nur eine Frau oder ein Trödler etwas zusammenbinden kann. Es waren Göthe's sämmtliche Werke, welche einer meiner Plagegeister hergebracht hatte, um sie mir zur Ansicht und zum Verkauf anzu¬ bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der große Schatten selbst über meine Schwelle ge¬
Kammer, und am Morgen that meine Mutter die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah.
Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war. Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand, welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬ zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬ fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬ flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher, an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden, mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬ fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke, welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte, um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬ bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0014"n="4"/>
Kammer, und am Morgen that meine Mutter<lb/>
die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet<lb/>
zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah.</p><lb/><p>Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube<lb/>
eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war.<lb/>
Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand,<lb/>
welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem<lb/>
Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬<lb/>
zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬<lb/>
fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des<lb/>
Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬<lb/>
flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber<lb/>
auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher,<lb/>
an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden,<lb/>
mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf<lb/>
dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬<lb/>
fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine<lb/>
Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden<lb/>
kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke,<lb/>
welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte,<lb/>
um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬<lb/>
bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der<lb/>
große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[4/0014]
Kammer, und am Morgen that meine Mutter
die Augen weit auf, als ſie mich unerwartet
zum Fruͤhſtuͤck erſcheinen ſah.
Ich bemerkte ſogleich, daß in unſerer Stube
eine kleine Veraͤnderung vorgegangen war.
Ein artiges Lotterbettchen ſtand an der Wand,
welches die Mutter aus Gefaͤlligkeit von einem
Bekannten gekauft, der daſſelbe nicht mehr unter¬
zubringen wußte; es war von der groͤßten Ein¬
fachheit, leicht und zierlich gebaut und ſtatt des
Polſters nur mit weiß und gruͤnem Stroh uͤber¬
flochten und doch ein allerliebſtes Moͤbel. Aber
auf demſelben lag ein anſehnlicher Stoß Buͤcher,
an die fuͤnfzig Baͤndchen, alle gleich gebunden,
mit rothen Schildchen und goldenen Titeln auf
dem Ruͤcken verſehen und durch eine ſtarke viel¬
fache Schnur zuſammengehalten, wie nur eine
Frau oder ein Troͤdler etwas zuſammenbinden
kann. Es waren Goͤthe's ſaͤmmtliche Werke,
welche einer meiner Plagegeiſter hergebracht hatte,
um ſie mir zur Anſicht und zum Verkauf anzu¬
bieten. Es war mir zu Muthe, als ob der
große Schatten ſelbſt uͤber meine Schwelle ge¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/14>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.